Schwindlerinnen: Roman (German Edition)
mit dem Stationsarzt um die Wette lesen, und somit begann ihr rezeptiv und imitativ funktionierendes Gehirn wieder zu arbeiten.
»Es gibt drei Arten neurotischer Lösungen«, teilte sie mit, als ich das nächste Mal kam.
Sie legte eine gelbe Fruchtgummimaus auf die Resopalplatte des Nachttischs und sagte: »Die expansive Lösung im Zeichen der Macht. Das ist Mutter. Dann haben wir die Nummer zwei, das bin ich. Die selbstverleugnende Lösung im Zeichen der Liebe.«
Sie legte eine rote Maus neben die gelbe.
»Und schließlich haben wir die Resignation im Zeichen der Freiheit.«
»Klingt gut«, sagte ich.
»Überhaupt nicht. Das ist die Schlimmste. Das ist Rolf«, sagte sie und quetschte eine grüne Maus neben die beiden anderen.
Es fiel mir schwer, an Lillemor das Selbstverleugnende zu sehen.
»Roffe«, sagte ich stattdessen. »Nach all dem, was du über ihn erzählt hast, wirkt er nicht sonderlich resigniert.«
»Damit ist nicht passiv und phlegmatisch gemeint«, erklärte sie. »Er hat mit seinem Leben aber nichts Bestimmtes vor, und er verscheucht Fragen nach dem Sinn und Zweck. Ich glaube, im Grunde erhofft er nichts über – tja, das Gewöhnliche hinaus.«
»Das ist ja wohl nicht ungewöhnlich«, sagte ich.
Jedenfalls möbelte dieses Buch sie auf, und bald verstand sie sich auch mit dem Stationsarzt besser. Sie fühlte sich, nachdem sie beide das gleiche Buch gelesen hatten, natürlich beinahe gleichauf. Lillemor war nicht gern unterlegen. Im Übrigen war er ein ziemlich kluger Mann.
Es ging aufwärts, doch Lillemor kam erst an Lucia heraus. Viele ihrer Geschichten waren unterhaltsam, und einige landeten in meinem Karteikasten. Im November hatten wir schließlich angefangen, eine Intrige zu einem Kurzkrimi zu entwickeln. Sie wuchs, und als Lillemor nach Hause fuhr, reichte es für einen Roman, aber er war noch ungeschrieben.
»Den schreibst du doch schnell zusammen«, sagte Lillemor. »Aber vergiss nicht meine Provision.« Dann fuhr sie mit dem Taxi davon, gekleidet in einen Tweedulster mit Revers aus kamelhaarfarbener Wolle, auf dem Kopf eine voluminöse Rotfuchsmütze.
Lillemors Elend hieß Angstneurose. Maklow nannte es indes endogene Depression und sagte, es hänge nicht mit ihren Erlebnissen, zum Beispiel am Walpurgisabend, zusammen, sondern komme von innen. Es sei die Chemie im Gehirn, und davon verstünden sie etwas. Lillemor hatte ihre Mackipillen und ihre Schlaftabletten geschluckt, und an Walpurgis hatte ein Arzt aus Rolfs Bekanntenkreis ein Kuvert mit ein paar Ritalin mitgebracht, weil er erfahren hatte, dass sie sich müde und down fühle. Daraufhin ging es hoch her, die gesamte Cocktailparty, sie wurde ein richtig ausgelassenes Fest, das bis weit in die Nacht ging. Und weil sie jetzt so zentral wohnten, stieg die Party bei ihnen. Nach dem Mützenschwenken vor der Unibibliothek am Carolinabacken kamen die Leute mit Kleinkindern und Luftballons an. Sie waren jetzt schließlich in einem Alter, in dem man nicht mehr draußen herumrannte und die Frauen Hüte statt Studentenmützen trugen, zumindest die verheirateten.
Die meisten gingen vermutlich nach Hause und brachten ihre Kinder ins Bett, aber es waren immer noch viele Leute da, und gegen zwei Uhr in der Nacht war nach wie vor ordentlich Schwung in der Bude. Lillemor zauberte einen Imbiss aus einem Bauernfrühstück und einem Kurzen und suchte Rolf, um ihn zu fragen, wo er den Schnaps hingetan habe, da sie ihn im Kühlschrank nicht fand. Von dem Schnaps war dann keine Rede mehr, denn sie ertappte Rolf und eine Juratusse, die er aus der Studentenvereinigung kannte, hinten im Abstellraum, den Lillemor als Kinderzimmer vorgesehen hatte und in dem ein Sofa stand.
Es war die Nacht, die für sie kein gutes Ende nahm.
»Lillemor ist zusammengebrochen, wie du weißt«, sagte Rolf Nyrén, als ich mit ihm auf Station 57 zusammenstieß. Er kam mit einem Strauß Astern an, ich mit meinen Fruchtgummimäusen. Er glaubte, es würde alles gut gehen.
Sie pumpten sie mit Barbituraten und Insulin voll, dann noch mit den Vorläufern der Benzodiazepine, die in Probepackungen aus Amerika kamen, und sie versicherten ihr, dass dies die richtige Methode sei. Es funktionierte doch alles: automatische Toaster, Heizung in Autos, Adoptionen ausländischer Kinder, die allgemeine Zusatzrente, die gesamte Demokratie funktionierte. Wer hätte da vermutet, dass es in Lillemors Gehirn einen Einbruch geben würde und dass ausgerechnet diese Frau so schwer zu behandeln
Weitere Kostenlose Bücher