Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
sie gleich eine Flut unangenehmer Fakten herausfinden würde, von denen sie lieber gar nichts gewusst hätte.
Sie öffnete die Augen und blickte direkt in das Gesicht des Mannes, den sie zuletzt nackt in einem Bordell gesehen hatte. Dann erblickte sie den Wolf, der allzu nah bei ihr stand. Er hatte sie noch nicht umgebracht. Aber er sah so aus, als ob er das im Sinn hätte.
Sie merkte, dass sie schrie. Sie versuchte aufzuhören. Es war gar nicht so einfach.
„Du lieber Himmel!“, seufzte sie schließlich und wandte ihren Blick ab, obgleich der Mann aus dem Freudenhaus diesmal immerhin Kleidung trug.
Der Mann hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt und zog sie nun in eine sitzende Position.
„Fräulein … Sie müssen aufstehen. Es ist zu kalt, um am Boden liegen zu bleiben.“
Er war stark, und das war gut, denn allein wäre sie zu keiner Regung fähig gewesen.
„Gnädiges Fräulein!“ Der Mann versuchte, sie weiter hochzuziehen. Der Wolf fauchte sie beide an. Raben beobachteten sie aus den umliegenden Bäumen. Sie sahen feindselig, aber keineswegs desinteressiert auf die Szene herab, als betrachteten sie die Köpfe von Verrätern, die man auf Spieße gesteckt hatte.
Ein Silberfläschchen wurde an ihre Lippen gedrückt, und sie schluckte etwas von einer absolut widerlichen Flüssigkeit und würgte vor Übelkeit. Sie drehte ihr Gesicht zur Seite.
„Mädel!“
Die Dringlichkeit des Mannes war recht insistent. Doch sie konnte nicht aufstehen. Ihre Muskeln gehorchten ihr nicht. Sie war so müde und zerschlagen, und ihr war kalt, innerlich wie äußerlich. Nur das Getränk brannte ihr die Kehle hinunter.
Sie zitterte und konnte damit nicht mehr aufhören. Ihre Zähne klapperten.
„Fräulein … Ich sollte mich wirklich an Ihren Namen erinnern, aber es tut mir leid, er ist mir entfallen. Darf ich mich vorstellen: Ich bin Douglas Sutton. Ich will Ihnen helfen. Sie können mir vertrauen.“
In dieser Aussage schwang so viel Überzeugungskraft, dass sie schließlich in sein Gesicht hochblickte, von dem man nicht allzu viel sah unter einem wuchernden Vollbart und allzu langem, dunkelbraunem Haar.
Sie war zu durcheinander, um zu antworten. Zu viele wilde Gedanken schossen ihr durch den Kopf und ließen sie ihren Schmerz und ihre Verzweiflung von Neuem spüren. Sie schluckte.
„Fräulein. Jetzt sagen Sie mir bitte, wie ich Sie nennen darf.“
Doch ihr Name schien irgendwo verschollen zu sein. Ihr wurde fast schlecht, als die Erinnerung ihr durch Körper und Seele fuhr. Das Leben trieb sie einfach weiter, es wurde stetig kälter. Selbst ihre Knochen schienen gefroren zu sein, ihre Seele ein Eisfeld voller Trümmer.
„Wollen Sie mir Ihren Namen nicht sagen? Ich gebe Ihnen mein Wort, dass Sie bei mir sicher sind. Ich werde Ihnen in keiner Weise schaden oder wehtun. Nehmen Sie noch einen Schluck Schnaps. Das hilft.“
Seine Worte hallten in ihrem Kopf wieder: Vertrauen. Fast war es ein Befehl. Doch sie mochte ihrem eigenen Gemüt schon nicht mehr Folge leisten, wie dann ihm?
Der Mann sprach mit Akzent. Doch seine Stimme klang nicht bedrohlich. Er mochte ein Ausländer sein, doch wenigstens war er ein Mensch. Nicht wie der Riesenwolf. Nicht wie der Mann, bei dem sie gelegen hatte.
Sie sammelte mühsam ihre Gedanken zusammen und versuchte, nicht an das zu denken, was allzu sehr schmerzte.
Name. Im Moment fiel ihr nur ein Name ein.
„Clarissa“, flüsterte sie.
„Heißen Sie so?“, fragte er. „Ich dachte, das junge Mädchen hieße so?“
Er wusste etwas über Clarissa?
Es bedurfte ihrer ganzen Kraft, doch sie zog die Beine an, versuchte aufzustehen. Er stützte ihr Gewicht, hatte seine Arme um sie geschlungen, um sie halten. Jetzt stand sie ganz nah bei ihm, lehnte an ihm. Er hielt sie in den Armen. Noch vor nur zwei Tagen hätte sie sich das verbeten, hätte nie eine solche Nähe erlaubt, schon gar nicht einem Fremden, über den sie wenig wusste, außer dass er nackt in Bordellen herumlief.
Sie atmete schaudernd ein.
„Keine Angst“, sagte er ganz ruhig. „Das ist schon in Ordnung. Alles ist … oh verdammt, du blödes Mistvieh!“
Sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass er mit der letzten Aussage nicht sie gemeint hatte, sondern den Wolf, der plötzlich versuchte, sein sabberndes Maul zwischen sie zu schieben.
Das Knurren wurde deutlicher, und viele Zähne waren ausgesprochen nah, und da waren schimmernde, wilde Augen und … überhaupt, Wölfe sollten nicht so groß sein.
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