Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
heilen?
Sie wischte ihm vorsichtig die Schulter ab. Die Eintrittswunde war relativ klein.
Sie wuchtete seinen Oberkörper hoch und berührte seinen Rücken. Kein Blut. Die Kugel war nicht wieder ausgetreten. Ein Stück Blei im Körper zu haben konnte nicht gut sein. Doch wenigstens sah es nicht so aus, als würde er in Kürze verbluten.
Sie faltete eine Art Kompresse aus dem Stoff, presste sie auf die Wunde und band sie mit einem weiteren Stück Stoff fest. Dann wandte sie sich seinem Bein zu, und ihr Mut verließ sie. Sie besaß nicht die Unverfrorenheit, ihm einfach die Hosen herunterzuziehen, und sollte so gar nicht wissen, was sich darunter befand. Also legte sie ihm nur notdürftig einen Verband über der Hose an und knotete ihn fest.
„Mr. Sutton! Sie müssen aufwachen! Dieser Kerl wird zurückkommen. Der arbeitet für die Mönche. Denen wollen wir doch nicht gerne begegnen.“ Das war eine vornehme Untertreibung.
Sie versuchte, ihn hochzuheben, doch er war ihr viel zu schwer.
„Mr. Sutton!“
Er antwortete nicht. Was sollte sie bloß tun? Sie musste unbedingt hier weg und sich vor den Mönchen verstecken. Allerdings würde das bedeuten, den Magier hilflos auf der Straße liegen zu lassen, wo seine Feinde ihn finden und umbringen würden. Das brachte sie nicht fertig.
Doch würde sie vielleicht genau das tun müssen. Wenn der Preuße Clarissa gefunden hatte, musste sie nur seiner Spur folgen, um dahin zu gelangen, wo er hergekommen war. Sie war keine Jägerin und wusste nichts von Spurensuche. Dazu hätte sie einen Hund gebraucht.
Ihr Blick fiel auf den Wolf. Ganz vorsichtig kroch sie auf ihn zu. Er knurrte drohend, und sie hielt an.
„Bitte.“ Sie versuchte, nicht weinerlich zu klingen. „Tu mir nichts.“
Ohne sich zu erheben kroch das Tier auf dem Bauch rückwärts. Es blickte sie halb warnend und halb ängstlich an.
„Lass mich dein Ohr anschauen!“
Was um Himmels willen tat sie da? Das war ziemlich dumm.
Dumm oder nicht dumm, sie streckte ihre Hand nach dem Tier aus. Es kauerte sich tiefer gegen den Boden und knurrte warnend. Ihre Hand zuckte zurück.
Im nächsten Augenblick hatte sie ihr Gesicht in ihren Händen vergraben und keuchte vor Verzweiflung.
„Was mache ich nur? Was soll ich nur tun?“
Silberblaue Augen betrachteten sie fast mitleidig.
„Ich kann ihn doch nicht hierlassen, damit die ihn finden. Ich kann ihn nicht einfach zurücklassen. Das kann ich nicht.“
Sie unterhielt sich mit einem verflixten Wolf.
„Aber vielleicht muss ich das. Mein Ehrgefühl …“ Sie dachte bei sich, dass sie so viele Dinge in den letzten Tagen verloren hatte, aber ihre Ehre schien ihr noch nicht abhandengekommen zu sein. „Ehre ist nicht Jungfernschaft. Ehre ist stete Verantwortung.“
Sie streckte wieder die Hände nach dem Wolf aus und merkte, dass sie dabei genauso zitterte wie der Wolf. Sie hatten beide Angst. Doch es konnte doch nicht gut sein, dass das Tier vor ihr Angst hatte? Es warf ihr einen verzweifelten Blick zu, und sie begriff, dass es nicht vor ihr, sondern um sie Angst hatte.
Diese seltsamen Augen hatten fast etwas Bittendes, wollten nicht, dass sie näher kam.
Sie betrachtete das Tier, ohne es anzufassen. Die Kugel schien Teile des Ohres abgerissen zu haben, aber ansonsten war ihm nichts passiert.
„Na gut“, sagte sie. „Ich werde dich nicht anfassen. Und ein Kopfverband sähe bei dir vermutlich wirklich dumm aus. Aber ich brauche deine Hilfe. Wir müssen die Spur von diesem Widerling finden, rausfinden, wo er hergekommen ist. Wir müssen meine … Clarissa finden, und Mr. Sutton können wir auch nicht einfach hier so liegen lassen.“
Ihr wurde erneut bewusst, dass es nicht eben intelligent war, sich mit einem Wolf zu unterhalten. Doch er wirkte so besorgt.
Langsam rappelte sie sich hoch und blickte über das Land. Der Weg war in beide Richtungen leer. Vermutlich musste man dafür dankbar sein.
Sie blickte gen Himmel.
„Hilfe!“, rief sie. „Ich brauche jetzt Hilfe. Wo bist du?“
Dies war kein Gebet. Vielleicht hätte es das sein sollen, doch es war eine Anrufung. Wer konnte ihr schon helfen? Herr von Rosberg saß vermutlich zu Hause und wartete darauf, dass die Gendarmerie eine Pferdediebin dingfest machte. Mr. Sutton war nicht in der Lage, irgendetwas zu tun. Es blieb nur noch der Rabenmann.
Er war so ziemlich die letzte Kreatur, die sie gern noch einmal getroffen hätte.
Ihre Anrufung schien erhört zu sein. Sie hörte das Flattern vieler
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