Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
nicht der Mutter“, erklang die hohe Stimme nach einer Weile. Da war sie wieder. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Darin befand sich ein Papier. Es war ein wenig vergilbt und abgegriffen und offensichtlich gebraucht. Er nahm es und entfaltete es, weil man das offenbar von ihm erwartete.
Das Papier zeigte eine Bleistiftzeichnung. Eine kleine Bergkuppe, ein hoher Baum, ein riesiger Rabe und ein Mädchen, dessen dunkles Haar im Wind wehte. Er meinte, die Gegend kennen zu müssen. Doch es stellte sich kein Erkennen ein.
Fast brüllte er die Kleine an.
„Wo hast du das her?“
Das jagte ihr Angst ein, und sie war im nächsten Augenblick unter dem Tisch verschwunden.
„Sie hat’s mir gegeben“, sagte sie unglücklich.
„Wer – deine Mutter?“ Er beugte sich hinunter, um sie zu sehen, aber sie verkroch sich noch weiter unter der Bank und machte keine Anstalten, von dort wieder hervorzukommen.
„Nein. Nicht die Mutter“, flüsterte sie.
Er steckte das Papier ein.
Von draußen hörte man Räder.
Das würde sein Wagen sein. Nun denn, auch gut. Er stand auf und nahm seinen Mantel. Es hatte wenig Zweck, weiter nachzubohren. Er machte dem Kind nur Angst. Eine Fahrgelegenheit nach Hause war allemal besser. Von dort aus konnte er mit frischen Kräften seine Suche fortsetzen. Mit frischer Kleidung.
Und mit einer guten Karte.
Er trat ins Freie.
Er hatte sich so sehr darauf versteift, nun Hochwürden Kreindl und dessen Wagen vorzufinden, dass er erst gar nicht merkte, dass dies nicht die Kutsche war, die er erwartet hatte.
„Gott ist auf unserer Seite!“, erklang eine süßliche Stimme vom Inneren des halboffenen Wagens. Schon erkannte Richard den Kutscher auf dem Bock. Im nächsten Augenblick traf ihn etwas und lähmte ihn völlig. Wie ein gefällter Baum fiel er auf den Boden und vernahm noch die Stimme der Frau.
„Heilige Maria Mutter Gottes! Was ist mit Herrn von Rosberg?“
„Mach dir keine Sorgen, meine Tochter. Wir werden uns gut um ihn kümmern.“
Kapitel 27
K onstanze war sich ziemlich sicher , dass sie genau an dieser Holzlege schon einmal vorübergekommen war. Allerdings sah der Wald überall sehr ähnlich aus, und gestapelte Holzblöcke sahen auch überall gleich aus.
Sie blickte zweifelnd auf die Feder. Wenn dieses Ding sie irgendwie zu Clarissa leiten sollte, dann konnte sie doch nicht im Kreis gelaufen sein? Vielleicht benutzte sie sie ja ganz falsch. Oder man brauchte irgendein Geheimwissen, um die Feder zum Funktionieren zu bringen?
Sie hatte sie nur festgehalten und war einfach in die Richtung losgeritten, von der sie meinte, sie könnte stimmen. Die Feder hatte sie nicht korrigiert. Sie zeigte auch nicht in eine bestimmte Richtung. Und schon gar nicht flog sie etwa voraus und zeigte den Weg. Die Feder hatte ihr nur das Gefühl vermittelt, dass die Richtung, die sie einschlug, schon irgendwie nicht falsch war.
Wenn man drüber nachdachte, war es freilich ziemlich dumm. Einer Feder folgen! Genauso dumm wäre es aber, sich noch einmal dieses dunkle Wesen herbeizusehnen. Sie wollte es nicht wiedertreffen und ihm sagen müssen: „Entschuldigen Sie, Ihre Feder geht falsch.“
Konstanze stoppte das Pferd und versuchte etwas anderes. Sie ließ die Feder fallen. Vielleicht würde dann ja etwas gänzlich Spektakuläres geschehen?
Nichts geschah. Das Ding taumelte nur gen Boden und blieb da liegen. Sie betrachtete es frustriert, stieg dann ab und hob es auf.
„So eine richtig große Hilfe bist du nicht“, schalt Konstanze die Feder. Diese unterließ es, eine Antwort zu geben. Sie stieg wieder auf.
Sie war losgeritten, sobald die Erscheinung sie verlassen hatte. Sie hatte so sehr gezittert, dass es schwierig gewesen war, das Pferd gesattelt zu bekommen. Ihre Hinterfront und ihre Schenkel schmerzten von dem gestrigen Ritt. Sie jammerte, als ihr Allerwertester wieder im Sattel verstaut war.
Was ihr jedoch viel mehr zu schaffen machte, war die ständige Angst. Ein Gespenst hatte mit ihr gesprochen, und das kollidierte mit ihrer Weltsicht. Die Welt hatte sich innerhalb eines Tages vollständig geändert, und sie fühlte sich verloren darin. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz umgedreht und wäre, ohne einen einzigen Halt, zurück zur Zivilisation gerannt. Doch sie wusste, dass sie mit der Schuld niemals würde leben können.
Also musste sie weitermachen, Pferde stehlen, Geister treffen und deren unbegreiflichen Einflüsterungen lauschen.
Beende es oder verende. Die Worte drehten
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