Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
sich in ihrem Sinn. Konstanze stellte fest, dass der Reiz, den man kryptischen Geheimnissen zuschrieb, wirklich sehr übertrieben wurde. Es hatte so ausgesehen, als ob ein wildes Tier diese Frau zerfleischt hatte, und nun spukte sie als Wiedergänger durch dieses Land und gab herumirrenden Damen unverständliche Befehle. Sie wünschte, die Erscheinung wäre etwas präziser gewesen. Der Geist aus Hamlet hatte sehr klar dargestellt, was er wollte. Aber diese Frau? Ihr Auftreten mochte beängstigend sein, ihr kommunikatives Talent war aber eher unterdurchschnittlich.
Was meinte sie nur mit „wirst du ihn lieben, wirst du ihn töten“? Konstanze hoffte inständig, dass sie nie in die Verlegenheit kommen würde, jemanden töten zu müssen. Abgesehen davon, dass es eine Sünde war, gehörte es sich auch einfach nicht.
Und Liebe? Sie war Lehrerin. Von weiblichen Lehrern wurde erwartet, dass sie unverheiratet und jungfräulich blieben. Hier in Bayern gab es dazu sogar ein Gesetz.
Sie hatte noch ein wenig Geld in ihrer Rocktasche gefunden, in den Falten des Stoffes versteckt. Die Satteltaschen enthielten kein Geld, nur Papiere und irgendwelches Zubehör, das vermutlich zu von Rosbergs Pistole gehörte. Die Waffe selbst war nicht dabei. Am liebsten hätte sie alles weggeworfen, damit ihr das Pulver nicht aus Versehen um die Ohren fliegen konnte – dafür war Pulver schließlich bekannt: Es explodierte. Doch sie fand, sie hatte kein Recht, Dinge fortzuwerfen, die ihr nicht gehörten. Sie hoffte vielmehr, dass sie Herrn von Rosberg seine Besitztümer zurückgeben können würde, nachdem sie Clarissa gefunden hatte. Sie würde ihm das, was sie sich – geborgt – hatte, wiederbringen und sich entschuldigen. Und er würde sie mit seinen stahlblauen Augen ansehen und … nun, vermutlich würde er sie ausschelten. Schelte konnte sie ertragen.
Sie fiel fast vom Pferd, als das plötzlich anhielt. Ein kleines Mädchen stand an einem schmalen Pfad. Es trug zerschlissene Lumpen, die für das Wetter viel zu dünn waren.
Die erste lebendige Person, der sie seit Passau begegnet war.
„Grüß Gott“, sagte Konstanze und bemühte sich um ein Lächeln. Das fiel ihr schwer. Irgendwo unterwegs schien ihr das Lächeln abhandengekommen zu sein.
„Grüß Gott!“, antwortete das Mädchen und starrte sie an. „Ist das dein Pferd?“
Die Frage war ganz harmlos, warf Konstanze aber völlig aus der Bahn. Sie schluckte.
„Es gehört einem Freund von mir“, sagte sie. „Er hat es mir geliehen.“
Warum beantwortete sie die Frage überhaupt? Es ging die Kleine gar nichts an. Doch vielleicht konnte Konstanze ja so Kontakt knüpfen und dadurch einen Ort finden, wo man ihr ein Frühstück angedeihen lassen würde. Ihr Magen knurrte.
„Wie heißt es denn?“, fragte das Kind.
Konstanze hatte nicht die leiseste Idee, und ihr Gehirn schien auf einmal völlig leer.
„Rosinante“, sagte sie schließlich, als sie wieder mal bei der Literatur Zuflucht gesucht hatte.
„Das ist aber ein Wallach“, protestierte das Mädchen.
Das war wohl wahr.
„Das ist Spanisch“, erklärte Konstanze geduldig und sammelte ihren Mut zu einer grundfalschen Aussage. „Im Spanischen ist Rosinante ein häufig gebrauchter Name für einen Wallach.“
Das Kind wirkte nicht, als verstünde es Spanisch, und Konstanze hielt ihren Lehrerdrang im Zaum und erklärte nichts weiter.
„Hör mal, Kind, gibt es hier in der Nähe ein Dorf? Oder ein Gasthaus? Irgendwo, wo man etwas zu essen bekommt?“
„Mein Vater hat Essen aus dem Dorf gebracht“, sagte das Mädchen. Es klang, als hätte er so etwas Abwegiges noch nie zuvor gemacht.
„Denkst du, er verkauft mir welches?“, fragte Konstanze. „Ich habe nämlich wirklich ziemlichen Hu... Appetit.“
Das Mädchen zuckte die Achseln.
„Schon vielleicht. Es war ja für den Mann. Doch der ist jetzt weg.“
Was für ein Mann? Das mochte der Preuße sein. Oder von Rosberg. Keinen von beiden wollte sie gerne treffen, doch wenn es sich nicht vermeiden ließ, dann bitte doch lieber von Rosberg. Aber das Kind hatte ja gesagt, dass derjenige fort war – wer immer es auch gewesen sein mochte.
„Wo wohnst du denn? Ist es weit?“
„Nein“, sagte das Mädchen. „Komm nur!“
Sie rannte los, und Konstanze ritt ihr hinterher. Der Pfad wurde breiter und mündete in einen Waldweg. Einige Minuten danach konnte man ein ziemlich heruntergekommenes, kleines Holzhaus ausmachen. Grob behauene Stämme waren auf einen
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