Schwingen der Lust
Tempelruine von Karnak. Die anderen Sechs standen im Kreis um ihn herum. Ani’El thronte am Fußende des Sarkophags, sodass er ihr direkt ins Gesicht sehen konnte. „Seid ihr denn blind? Wenn ihr mich jetzt begrabt, wird es das Jüngste Gericht niemals geben! Dann werde ich noch in zehntausend Jahren hier liegen, wenn diese Menschenwürmer auch noch den letzten Rest Seiner Schöpfung zerstört haben werden!“
Ani’El schüttelte entschieden den Kopf. Ihr Blick war stechend und unnachgiebig. „Die Erfüllung der Prophezeiung ist nicht von dir abhängig, T’Azar.“
„Und was, wenn doch?“, begehrte Ba’Al’T’Azar verzweifelt auf und versuchte, sich in seinen Ketten aufzubäumen. „Was, wenn es meine Bestimmung ist, die Prophezeiung zu erfüllen?“
„Wenn es so wäre, hätten wir dich jetzt nicht verurteilen können“, sagte Ani’El unbeeindruckt. „Du, Bruder, bist doch derjenige, der unerschütterlich an die Unausweichlichkeit der Vorsehung glaubt. Was geschehen wird, wird geschehen. Und nichts, was wir tun oder nicht tun, wird daran etwas ändern.“ Sie wandte sich an die anderen Fünf. „Schließt den Sarkophag.“
„Nicht doch“, erklang da plötzlich eine völlig neue Stimme - eine jugendlich helle —, und wie aus dem Nichts tauchte jemand hinter Ani’El auf.
Es war eine Frau. Eine wunderschöne Frau.
Obwohl sie um gut einen Kopf kleiner war als Ani’El, konnte Ba’Al’T’Azar sie deutlich erkennen. Sie war, rein äußerlich, noch im Teenageralter, vielleicht gerade mal achtzehn, und hatte hellblond strahlendes, glattes Haar, das ihr fast mädchenhaft junges Gesicht umrahmte. Ihre Augen waren groß und blau und bargen eine Spur Ewiger Unschuld.
Ganz im Kontrast dazu trug sie ein mitternachtsschwarzes, eng anliegendes Gewand aus Seide, das mehr von ihrer wohlproportioniert kurvigen Figur enthüllte als es verbarg. Der kleine, aber volle Mund war halb geöffnet, ganz so, als sei sie verblüfft. „Was tut ihr denn da?“
Ba’Al’T’Azar wollte noch eine Warnung ausstoßen.
Doch es war bereits zu spät.
Noch ehe Ani’El sich umdrehen konnte, hatte sich in den Händen der Blonden eine Lanze mit ungewöhnlich langer und schlanker Klinge aus schwarz glänzendem Obsidian materialisiert.
„Du?!“, konnte Ani’El gerade noch ausrufen, da hatte die schimmernde Speerspitze sie bereits an der Schulter berührt. Binnen des Bruchteils einer Sekunde verwandelte sich die Anführerin der B’Nai Elohim mitten in der Bewegung in eine regungslose Statue aus Basalt, und der Obsidian leuchtete, als hätte er gerade frisches Leben getrunken - was, wie Ba’Al’T’Azar wusste, tatsächlich der Fall war. Denn er kannte diese Waffe und ihre Trägerin nur zu gut. Es war der Speer der Verdammnis. Der dunkle Zwillingsbruder des Speers des Schicksals.
„Macht mich los!“, schrie er in wilder Panik; doch die übrigen Fünf hatten ganz eigene Sorgen.
Die kleine Blonde stieß einen triumphierenden Schrei aus und bewegte sich mit der Schnelligkeit und dem Geschick eines Derwischs. Noch ehe die B’Nai Elohim überhaupt ihre Waffen ziehen konnten, waren zwei weitere von ihnen von der Spitze der Lanze berührt und augenblicklich zu Stein erstarrt.
Die verbleibenden drei gingen in Formation und erhoben sich mit ihren Schwingen in die Luft.
Doch auch die Blonde hatte mit einem Mal Flügel; allerdings waren ihre die ledrigen, schwarzen Hautschwingen einer riesigen Fledermaus. Und sie war damit sehr viel geschickter als die Engel.
Mit der Präzision einer Libelle zickzackte sie auf ihre Gegner zu - viel zu schnell, um ihre Flugbahn berechnen und eine wirksame Verteidigung aufbauen zu können.
„Kommt, meine kleinen Vögelchen“, sang sie mit glockenklarer, wundervoller Stimme und hörte sich dabei verspielt fröhlich an; auf eine grausame Art fürchterlich gut gelaunt.
„Bringt euch in Sicherheit!“, brüllte Ba’Al’T’Azar seinen überlebenden Geschwistern zu; aber keiner schien ihn zu hören. „Ihr habt nicht die Spur einer Chance!“
Die drei griffen zugleich an; frontal und über die beiden Flanken. Doch die Blonde kicherte nur amüsiert, wirbelte mit der Grazie einer Ballerina einmal um die eigene Achse herum, und ein weiterer Engel fiel, in einen Felsen verwandelt, krachend zu Boden.
„Flieht, ihr Narren!“, rief Ba’Al’T’Azar aus Leibeskräften - und nun endlich reagierten die beiden, die noch am Leben waren. Es waren der gewaltige Suri’El, Hauptmann der Cherubim, und
Weitere Kostenlose Bücher