Schwingen des Vergessens
ist kein Scherz, du weißt, dass ich nicht solche Scherze mache, nie“, widersprach Caro ihr und sog die Luft ein. Unkontrolliertes Zittern durchfuhr ihren gesamten Körper. „Ich wollte es dir die ganze Zeit sagen, aber ich konnte nicht.“ Langsam rückte sie näher zu Amelie und breitete in Zeitlupe die Arme aus, um sie zu umarmen. Das Mädchen schüttelte leicht, fast unmerklich den Kopf, und kroch ängstlich davon. Diese Frau, von der sie jahrelang gedacht hatte, es wäre ihre Mutter, sie war ihr fremd. Eine fremde Person, die sie noch nie gekannt hatte.
Ohne weitere Worte sprang Amelie vom Bett und stolperte hinaus, nicht ohne, vorher noch richtig laut die Tür zuzuknallen. Warum auch immer wollte sie, dass Karoline noch trauriger wurde als sie es eh schon war. Sie hasste die Frau aus ganzem Herzen dafür, dass sie ihr das alles verschwiegen hatte. Wahrscheinlich hätte sie es gar nicht richtig kapiert, wenn sie es ihr vor 4 Jahren bereits gesagt hätte. Dann wäre jetzt alles gut gewesen, aber so war es nicht gut. Überhaupt nicht.
„Ich wurde adoptiert, Caro ist nicht meine echte Mutter, ich wurde adoptiert, Caro ist nicht meine echte Mutter…“, wiederholte sie immer wieder, auch, als sie schon längst unter der Bettdecke lag. Es konnte nicht sein! Ihre Mutter musste lügen, schließlich war es unmöglich, denn wenn sie Amelie nicht gezeugt hatte, wer hatte es dann getan? Irgendeine Alkoholikerin oder was auch immer? Erst jetzt kam ihr die Frage, ob ihr Vater Steve ihr Vater war, dann wäre Caro wenigstens ihre Stiefmutter… Zitternd wickelte sie sich ihre Bettdecke noch fester um den Körper und drehte sich zur Wand hin. Ohne wirklich nachzudenken betrachtete sie ihre Malereien auf der Decke, keines drückte so viel Trauer aus, wie sie gerade fühlte. Kein einziges. Schluchzend schloss sie die Augen und stellte sich ein Lied vor, das Caro immer sang, wenn sie traurig war. Sie glaubte es, durch den Boden zu hören, nur ganz leise, aber bestimmt sang sie. Zutiefst betrübt tastete Amelie nach ihrem Tagebuch, das ihr bis jetzt immer weitergeholfen hatte, heute wahrscheinlich nicht.
„Warum muss das genau heute passieren und ich dachte, diese Wahrsagerin redet nur irgendeinen Quatsch, aber wenn es stimmt, dann bin ich doch gar nicht von ihr. Dann gehöre ich gar nicht hier her. Schließlich muss meine Mutter noch irgendwo sein. Außer Esmeralda hat auch in diesem Punkt Recht, dann ist meine Mutter nämlich bereits im Himmel und wacht dort über mich“, dachte sie und schüttelte sofort den Kopf. Warum hatte sie dann nie ein Grab gesehen, warum war sie nie auf dem Friedhof ihretwegen? Wütend auf sich selbst, dass sie nie etwas hinterfragt hatte, wischte sie sich die Tränen aus den Augen. So viele Gefühle gleichzeitig hatte sie noch nie in ihrem gesamten Leben gefühlt, denn so ein Schicksalsschlag wie dieser hier, war nicht einmal der Erinnerungsverlust. Jetzt hatte sie beides nicht mehr, keine Erinnerungen und keine Eltern. Trotz diesem Schlag, der so unerwartet gekommen war, musste sie weiter leben, schließlich war Caro immer noch ihre Mutter. Gewissermaßen. Sie hatte wie jede andere Mutter für sie gesorgt und auch nicht aufgegeben, obwohl sie wusste, dass Amelie nicht ihre leibliche Tochter war. Karoline musst viel durchlitten haben, und nun sollte alles umsonst sein? Nein, nicht einmal das wollte das Mädchen zulassen. Eilig tippte sie eine Nachricht in ihr Handy: „Mama, ich verzeihe dir, es wird wahrscheinlich dauern, bis ich dir wieder ins Gesicht sehen kann, aber vergiss nicht, dass ich dir verzeihe. Du bist immer noch meine Mutter und wirst es immer bleiben. Allerdings bin ich auch total enttäuscht von dir, dass du mir es so lange verschwiegen hast. Ich nehme jetzt einfach mal an, dass du es mir wirklich schon immer sagen wolltest und dass du vorhattest, es mir in nächster Zeit zu sagen. Falls du genau das nicht wolltest und mir das für immer verheimlichen wolltest, dann betone ich nochmal, dass ich sehr enttäuscht von dir bin. Deine Tochter Amy.“ Mit geschlossenen Augen sendete sie den Text ab, zumindest würde dieser die Traurigkeit ihrer Mutter etwas stillen. Trotzdem wollte sie nicht normal weiterleben, bevor sie nicht alles über ihre Mutter herausgefunden hätte. Zitternd knipste Amelie noch schnell die Lampe aus, und schlief mitten am Tag ein. Die Tränen tropften allerdings weiter auf den Kopfpolster.
Mitten in der Nacht schlug Amelie die Augen auf, die Decke lag
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