Schwingen des Vergessens
nicht mehr so einsam, aber da kam wieder das Problem, dass wir uns sicher waren, dass du keinen kleinen Schreihals in deinem Zimmer beherbergen wolltest. Außerdem hatte dein Vater in letzter Zeit sehr wenig Zeit für uns, vor allem für mich war er nie da, wenn ich ihn wirklich brauchte. Jetzt zum Beispiel! Als wir dich adoptiert haben, waren wir uns vollkommen sicher, dass wir dir irgendwann die ganze Wahrheit erzählen wollten, aber wir wollten es gemeinsam tun und dir alles genau erklären, aber jetzt sitze ich alleine hier.“ Schluckend überdachte Amelie ihre Worte, ihre richtige Frage wurde allerdings noch nicht beantwortet.
„Sie müssen dir doch etwas über mein Leben gesagt haben, als du mich mit nach Hause genommen hast, oder? Es kann ja nicht sein, dass sie einfach gesagt hat ‚Nimm sie mit und sag uns immer wieder, ob sie wohl brav ist’ und nicht mehr. Wer waren meine Eltern? Warum haben sie mich weg gegeben?“ Seufzend legte Caro sich neben sie, instinktiv hob das Mädchen die Decke ein wenig an und ließ die Frau darunter kriechen.
„Sie haben dich nicht freiwillig weg gegeben, da bin ich mir sicher…“ Die letzten Worte brachte sie nicht mehr hervor, doch Amelie konnte sich ohnehin schon vorstellen, was gleich gekommen wäre. Allerdings wollte sie es jetzt noch lange nicht akzeptieren.
„Warum bist du dir da so sicher? Du weißt es ja nicht! Was ist, wenn sie mich einfach nicht mehr wollten, wenn ich ihnen einfach zu nervig wurde. Sicher haben sie sich gedacht, dass ich, wenn ich groß bin, nicht mehr so brav und naiv bin, wie als Kind. Und dann wollten sie mich nicht mehr. Was soll es sonst für einen Grund geben?“
„Amelie, Schatz. Bitte lass mich ausreden. Die Betreuerin, die mir dich übergeben hat, hat uns nicht einmal den Namen deiner Eltern gesagt. Sie hat nur betont, dass du Amnesie hast und deshalb deine Erinnerungen verloren hast. Sie hat uns außerdem eingebläut, in frühestens 2-3 Jahren mit der Wahrheit heraus zu rücken, davor wäre es für dich nicht verträglich. Überhaupt am Anfang warst du sehr verwirrt.“ Nervös drehte Amelie sich zur Seite und starrte die violette Wand an. Also wusste sie rein gar nichts über ihre Eltern, nicht einmal, wie sie hießen. Es fühlte sich mehr als nur komisch an, zu wissen, dass man in einer fremden Familie wohnt, ohne die echten Eltern überhaupt zu kennen.
„Ich weiß ja…. Aber das heißt, du weißt überhaupt nichts über mich, oder? Rein gar nichts.“
„Das stimmt nicht, ich erinnere mich an jeden einzelnen Tag der vier Jahre, die wir bis jetzt gemeinsam verbracht haben, ich weiß noch von allen Ausflügen und von allem, was irgendwie nur ein klein bisschen wichtig war.“ Amelie drückte die Lippen fest aufeinander und sparte sich einen bösen Einwand, ein paar fielen ihr ein. Zum Beispiel, dass sie vergessen hatte, ihr die Wahrheit über die Adoption zu erzählen.
„Okay, wenn du schon so viel über mich weißt, wer sind meine besten fünf Freundinnen?“ Caro griff nach der Hand ihrer Tochter und drehte sie zu sich. Ein paar Sekunden blickte sie tief in ihre Augen und schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Genau deswegen mache ich mir Sorgen, du hast keine Freundinnen. Keine fünf, keine 3, keine einzige. Bitte versteh das nicht falsch, aber du hast in den 4 Jahren keine einzige Person in deinem Alter mit nach Hause gebracht, nie“, flüsterte Karoline leise und drückte öfters ihre Hand, wahrscheinlich um ihr Sicherheit zu geben, was leider nicht funktionierte.
„Ich weiß, ähm, Mama, macht es dir was aus, wenn du mich jetzt bitte alleine lässt? Ich brauche die Zeit, um über mich selbst nachzudenken. Und über alles, was mir irgendwie wichtig erscheint und mein Leben bestimmt. Macht dir das was aus?“ Sie schüttelte mit dem Kopf, stand auf und verschwand ohne weitere Worte aus ihrem Zimmer. Ein paar Sekunden später ertönte durch die Tür bereits ihr trauriger, durchdringender Gesang. Eine Weile lauschte Amelie ihrer Stimme und erhob sich dann ebenfalls. In solchen Momenten, kam immer ihr Tagebuch zum Einsatz, immer.
Liebes Tagebuch,
ich verstehe die Welt nicht mehr. Weißt du was? Ich bin nicht die, die ich immer dachte zu sein. Ich bin nicht mehr Amelie Spring, wahrscheinlich heiße ich gar nicht Amelie. Okay, Erklärung folgt:
Ich hab herausgefunden, dass ich adoptiert wurde. Jetzt, im Nachhinein betrachtet, wäre es für mein Leben wohl besser gewesen, ich hätte nicht diese Schnapsidee
Weitere Kostenlose Bücher