Schwur der Sünderin
Angst, noch Wut. Innerlich bin ich bereits gestorben, glaubte sie und schloss die Augen. Sie fühlte sich leicht und frei und sorglos und gab sich diesem schwebenden Gefühl einfach hin.
Plötzlich wurde Anna Maria aus dieser Leichtigkeit herausgerissen
und ins Gesicht geschlagen. Eine Stimme drang verzerrt zu ihr durch, doch den Sinn der Worte verstand sie nicht.
»Wach auf, Mädchen«, brüllte Else und schlug ihr erneut ins Gesicht. Als die junge Frau sich nicht regte, rieb Else ihr das Gesicht mit Schnee ab. »Du wirst hier sterben«, rief sie und klatschte ihr ein weiteres Mal mit der flachen Hand auf die Wangen.
Langsam blinzelte die junge Frau und öffnete ihre Augen. Als Else ihre blauen Augen sah, stutzte sie für einige Augenblicke. Sie besah sich das Gesicht der Frau genauer.
»Das kann nicht sein«, murmelte sie und ahnte in ihrem Innern, dass sie sich nicht irrte.
Anna Maria kam langsam zu sich und spürte als Erstes den weichen Strohsack unter sich, der mit Leinen überzogen war. Eine Decke, die mit Gänsefedern gefüllt war, wärmte sie. Erschrocken stellte sie fest, dass sie nackt war. Sogleich griff sie sich an den Hals und atmete erleichtert aus, als sie ihre Kette spürte. Durstig leckte sie sich die Lippen und stellte dabei einen seltsamen Geschmack fest. Anna Maria setzte sich auf und blickte sich in dem Raum um. »Wo bin ich?«, murmelte sie.
Es schien Nacht zu sein, denn nur eine Laterne auf dem Tisch spendete schwaches Licht. In dem Herdfeuer auf der gegenüberliegenden Seite knisterten glühende Holzscheite, über denen ein gusseiserner Topf hing. Anna Maria konnte schwachen Essensgeruch schnuppern und merkte, wie hungrig sie war.
Da wurde die Haustür aufgestoßen, und eine Frau betrat die Hütte, die auf dem Arm mehrere Holzscheite trug. Rasch breitete sich Kälte im Raum aus. Die Frau trat gegen die Tür, dass diese krachend ins Schloss fiel. Anna Maria zog erschrocken die Bettdecke bis zum Kinn hoch, sodass nur ihre großen Augen und ihr blonder Schopf zu sehen waren.
Die fremde Frau ließ das Holz vor dem Herd fallen und ging erneut hinaus, um kurz darauf mit weiteren Holzscheiten zurückzukommen. Das wiederholte sie mehrere Male, bis sich ein kleiner Berg Holz aufgetürmt hatte. Erst dann zog sie ihren Umhang aus, band das Tuch ab und schüttelte ihr dunkles Haar aus. Mit dieser Bewegung blickte die Frau auf Anna Maria. Als sie sah, dass die junge Frau wach war, erklärte sie:
»Ein Schneesturm zieht auf. Da ist es ratsam, genügend Holz im Haus zu haben. Wie geht es dir?«
Ohne Anna Marias Antwort abzuwarten, nahm sie einen Holzlöffel und rührte in dem eisernen Topf. »Ich denke, dass du Hunger hast«, sagte sie freundlich und schöpfte Gemüsesuppe in eine Holzschale. »Ich habe Speckstücke angebraten und hineingetan. Die werden dich stärken«, sagte sie mit einem Lächeln und zog einen Stuhl vor Anna Marias Bett. Dann setzte sie sich mit der heißen Suppe zu ihr.
»Du hast mich ausgezogen«, sagte Anna Maria und errötete.
»Deine Sachen waren nass und steifgefroren. Wenn ich sie dir angelassen hätte, wäre dein Tod gewiss gewesen. Ich habe sie gewaschen und getrocknet. Wenn du willst, kannst du sie wieder überziehen.«
Anna Marias Augen hatten sich erschrocken geweitet. »Wie lange bin ich schon hier?«
»Vor zwei Tagen habe ich dich auf der verschneiten Wiese gefunden. Du kannst von Glück sagen, dass ich nach dir gesehen habe. Zuerst dachte ich, dass du ein betrunkener Landstreicher wärst, und wollte dich liegen lassen. Aber mein schlechtes Gewissen hat mich zu dir geführt«, lachte die Frau leise. »Komm, Mädchen! Wir können uns später unterhalten, jetzt iss die Suppe, damit deine Wunden heilen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Anna Maria und spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen.
»Reg dich nicht auf, Mädchen! Ich habe dich mit Ringelblumensalbe
eingeschmiert. Die heilt, und schon bald wird man nichts mehr davon sehen.«
Jetzt wusste Anna Maria, welchen Geschmack sie auf der Zunge hatte. »Ich heiße Anna Maria!«, sagte sie und aß einen Löffel Suppe.
»Mein Name lautet Else«, stellte sich auch die Frau vor und schob ihr einen vollen Löffel in den Mund.
Als Anna Maria bewusst wurde, wer sie da fütterte, verschluckte sie sich beinahe an der Suppe. Nachdem sie hinuntergeschluckt hatte, sagte sie: »Ich kenne deinen Namen!«
Else schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. Ich habe es gewusst, dachte sie.
Nachdem Anna Maria die
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