Schwur der Sünderin
da bereits Bodenfrost eingesetzt hatte. Mit dem großen Korb auf dem Rücken
ging Else von Weinstock zu Weinstock und schnitt die Reben ab. Der Korb war schwer, und der dicke Bauch ließ sie keuchen. Noch fünf Wochen, bis das Kind zur Welt kommen würde, und Else war froh darüber.
Die Rückenkiepe war schon fast gefüllt, als Else auf einem Stein umknickte und nach vorn auf den Bauch fiel. Sie würde nie den stechenden Schmerz vergessen können, der ihr durch den Unterleib fuhr. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schnallte sie den Korb ab und kroch wie ein Hund auf allen vieren den Weinberg hinab. Als sie plötzlich spürte, wie eine warme Flüssigkeit ihre Kleidung nässte, und sie der Wunsch überkam zu pressen, wusste sie, dass das Kind herauswollte. Voller Angst und schweißgebadet schrie sie um Hilfe. Als endlich eine Bäuerin zu ihr gelaufen kam, war der Junge bereits geboren.
Er schrie nur zweimal auf und schwieg dann für immer.
In der Erinnerung hörte Else ihren eigenen Schrei in den Weinbergen verhallen. Er war so wunderschön, mein kleiner Linhart, dachte sie und ließ den Tränen ihren Lauf. Ein heller Flaum war bereits auf seinem Köpfchen zu erkennen gewesen. Sicherlich hätte er auch die gleichen blauen Augen wie sein Vater und wie seine Schwester gehabt. Else schniefte in die Schürze.
Anna Maria war durch Elses Unruhe aufgeweckt worden. Da der Schatten der Frau auf sie fiel, konnte sie sie unbemerkt beobachten. Schon während ihres langen Marsches hatte Anna Maria überlegt, wie die andere Frau ihres Vaters wohl aussehen würde. Sie hatte vermutet, dass sie ihrer Mutter gleichen würde, doch außer dem dunklen Haar konnte sie keine Ähnlichkeit feststellen. Auch schien Else im Gegensatz zu ihrer Mutter Elisabeth verbittert zu sein. Wahrscheinlich hat das Leben sie geprägt, dachte Anna Maria mitfühlend, schließlich ist Else mit einem Aufständischen verheiratet, während meine Mutter das Leben einer geachteten Bäuerin führen durfte. Diese Frau hat
kaum etwas mit meiner Mutter gemein. Anna Maria rief sich das liebevolle Wesen ihrer Mutter in Erinnerung.
»Du bist wieder wach«, stellte Else fest und beugte sich vor. Ihr Blick musterte Anna Maria. Dann sagte sie mit bitterem Unterton: »Du bist die Tochter meines Mannes.«
Anna Maria wusste nichts darauf zu antworten und schwieg. Sie fühlte sich unwohl. »Kannst du mir meine Kleider geben?«, stammelte sie.
Else nickte. Sie reichte Anna Maria Rock und Hemd und ging hinüber zum Herd.
»Ich koche uns einen Kräutersud«, sagte sie, ohne sich umzublicken. Anna Maria stand von ihrem Lager auf und zog sich an. Anschließend setzte sie sich zu Else an den Tisch, wo bereits eine Tasse mit dem dampfenden Getränk für sie stand.
Nachdem Anna Maria einige Schlucke genommen hatte, sagte sie mit leiser Stimme: »Wir haben erst vor Kurzem erfahren, dass mein Vater neben unserer Mutter noch ein Eheweib hat.«
»Wir?«, fragte Else und wurde bleich.
Anna Maria nickte zaghaft. »Ich hatte vier Brüder. Jakob, Peter, Matthias. Und Nikolaus ist unser Jüngster. Mein mittlerer Bruder Matthias wurde im letzten Sommer in der Schlacht bei Frankenhausen getötet.« Sie schluckte. »Vater weiß davon noch nichts.«
»O mein Gott!«, sagte Else und fasste über den Tisch nach Anna Marias Hand, die sie kurz drückte. »Das muss für eure Mutter furchtbar sein.«
Anna Maria atmete laut aus und flüsterte: »Meine Mutter ist vor einigen Jahren gestorben. Zum Glück hat sie den Tod von Matthias nicht mehr erlebt. Ich glaube kaum, dass sie das verkraftet hätte.«
Else nickte. »Ich weiß, was es heißt, ein Kind zu verlieren. Es ist, als würde einem das Herz bei lebendigem Leib herausgeschnitten.«
Erstaunt schaute Anna Maria auf und sah, dass Elses Blick hart geworden war.
»Aber das ist jetzt einerlei. Mein Mann hat neben mir eine Familie gehabt, und das schmerzt fast ebenso.«
»Als mein ältester Bruder Jakob, der jetzt der Bauer auf unserem Hof ist, von dir erfuhr, wollte er nicht, dass ich Vater aufsuche. Er war ebenso wütend und erzürnt, wie du es bist. Glaube mir, niemand ist darüber glücklich. Aber das ändert nichts daran, dass es uns und dich gibt. Zum Glück konnte Hauser meine Brüder überzeugen …«
»Hauser?«, unterbrach Else sie. »Du meinst Jacob Hauser, der einst Fähnrich bei den Bundschuh-Aufständen war?«
Als Anna Maria nickte. »Hauser und der Bader Gabriel sind auf unserem Hof, denn mein Bruder Peter hat Gabriels
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