Schwur der Sünderin
Suppe aufgegessen hatte, streckte sie sich aus und schlief erschöpft ein. Else stellte die Holzschale auf den Tisch und setzte sich wieder zu der jungen Frau ans Bett. Schon die letzten Tage hatte sie das zarte Gesicht der schlafenden Frau betrachtet. Dass sie hellblonde Haare hat, hätte ich nicht vermutet, dachte Else und strich Anna Maria eine Strähne aus dem Gesicht.
Als sie die junge Frau bewegungslos im Schnee hatte liegen sehen, dankte sie ihrer Neugier, dass sie sich aufgerafft hatte, sich um diese Fremde zu kümmern. Elses anfängliche Befürchtung, dass das Mädchen bereits erfroren sei, schwand, als sie Anna Maria schwach atmen sah. Mit großem Kraftaufwand hatte sie die junge Frau ins Haus geschleift, wo sie ihr gleich auf dem Boden die nassen Sachen auszog. Dabei hatte sie mit Entsetzen die zahlreichen Verletzungen im Schoß und an den Oberschenkeln gesehen. Der Körper war übersät mit blauen Stellen, und auch die Lippen der Fremden waren dick angeschwollen und blutverkrustet.
»Welcher gottlose Mistkerl hat dir das angetan?«, flüsterte
Else erschüttert und verarztete die Wunden mit der Ringelblumensalbe.
Anna Maria hatte bei Elses leichten Berührungen aufgestöhnt und sie kurz angeblickt.
»Komm, Mädchen, ich helfe dir auf, damit du dich auf mein Nachtlager legen kannst.«
Das war jetzt zwei Tage her. Zwei Tage, in denen Else sich so viele Gedanken gemacht hatte wie nie zuvor in ihrem Leben.
Hatte sie Recht, und diese junge Frau war tatsächlich die Tochter ihres Mannes Joß Fritz? Vieles sprach dafür und manches dagegen.
Else war überrascht gewesen, als sie Anna Maria das schlammfarbene Tuch vom Kopf zog und das helle Haar zum Vorschein kam. Wie flüssiger Honig, dachte Else, und die Erinnerung holte sie ein. Erinnerungen, die seit vielen Jahren regelmäßig wiederkamen. Erinnerungen, die schmerzten und gegen die sie nichts unternahm, denn sie wollte sie wachhalten, damit sie ihren Sohn nie vergessen würde.
Else blickte Anna Maria an und überlegte. Wie alt wirst du sein? Achtzehn oder vielleicht schon zwanzig? Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Mein kleiner Linhart wäre jetzt acht Jahre alt, dachte sie, und sofort spürte sie das verräterische Brennen in den Nasenflügeln. Else schluckte mehrmals, bis sich die Tränen verzogen.
Es war im Jahr 1517 gewesen. Das Jahr, in dem Joß Fritz versuchte, seinen dritten Bundschuh-Aufstand vorzubereiten. Der zweite war einige Jahre zuvor verraten und viele seiner Anhänger waren hingerichtet worden. Joß wurde steckbrieflich gesucht, sodass er jahrelang untertauchte und Else nicht wusste, wo er war.
Bei dem Gedanken lachte Else bitter auf. Sicher warst du bei
deiner anderen Frau und euren Kindern gewesen, während ich mich um dich sorgte, dachte sie und versuchte, die aufkeimende Wut zu unterdrücken. Sie zwang sich, wieder an die Zeit zu denken, als Joß bei ihr gewesen war.
Schon seit mehreren Wochen hatten sich hartnäckig Gerüchte gehalten, dass der ehemalige Bundschuh-Anführer Joß Fritz Männer für einen neuen Aufstand anwerben würde. Zudem erzählte ein unbedarftes Bäuerlein aus Angst vor dem Henker und unter der Folter, dass es gesehen habe, wie ausgemusterte Landsknechte, Gaukler, Bettler, Hausierer, wandernde Handwerker von Ort zu Ort zogen, um Männer für den großen Aufstand anzuwerben. Obwohl niemand sonst das bezeugen konnte, glaubte man ihm und suchte nach dem Bundschuh-Anführer.
Joß Fritz hatte keine andere Wahl gehabt. Ohne Else oder einen seiner Getreuen einzuweihen, war er mitten in der Nacht aus Lehen verschwunden. Niemand wusste, wohin er gegangen war. Selbst sein Kampfgefährte Kilian und dessen beste Späher konnten es nicht in Erfahrung bringen. Sie wussten nicht einmal, ob ihr großer Anführer lebte oder tot war. Joß Fritz schien wie vom Erdboden verschwunden zu sein.
Vielleicht wäre er früher zurückgekommen, wenn er von meiner Schwangerschaft gewusst hätte, hatte Else gehofft, doch im Grunde wusste sie, dass er nicht gekommen wäre. »Statt bei mir zu sein, war er bei dieser anderen Frau«, flüsterte sie und spürte erneut Wut und Enttäuschung aufsteigen. Deine Mutter hat das bekommen, das mir zugestanden hätte, dachte sie und blickte Anna Maria zornig an. Wenn er bei mir geblieben wäre, würde Linhart heute leben.
Else schloss die Augen und sah sich in dem Weinberg stehen – allein und mit dickem Bauch. Die Weintrauben mussten in dem Jahr früher als sonst geerntet werden,
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