Schwur der Sünderin
Ort, an dem sie sich als Kind versteckt hatte, wenn der Vater böse auf sie war und sie strafen wollte. Hier fühlte sie sich sicher und geborgen, denn sie hoffte, dass sie hier niemand finden würde. Es war der stillgelegte
Steinbruch, der mitten im Wald lag und den kaum noch jemand kannte. Zudem waren während der vielen Jahre, in denen hier kein Gestein mehr abgebaut wurde, wilde Sträucher und Bäume gewuchert, sodass der Eingang versteckt war.
Anna Maria drückte vorsichtig die dornigen Ranken beiseite und trat in einen dachlosen, langen Raum ein, der von drei Wänden wie ein Schlauch eingegrenzt war. Hier befand sie sich in ihrer Welt, die sie sich als kleines Mädchen mit ihren Zeichnungen erschaffen hatte.
Es kam Anna Maria wie eine Ewigkeit vor, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Efeu und feines Moos hatten die steilen Wände überzogen. Vorsichtig glitten ihre Fingerspitzen über die schwarzen Kohlezeichnungen an den Steinwänden. Erstaunt bewunderte Anna Maria ihre eigene Kunstfertigkeit. Einige Zeichnungen waren so groß wie sie selbst, andere hatte sie naturgetreu klein und zart gezeichnet.
An manche Bilder konnte sie sich nicht mehr erinnern und musterte sie mit leicht zusammengekniffenen Augen. Auf der einen Wand hatte sie ein Eichhörnchen gezeichnet, das eine Nuss in den Pfoten hielt. An anderer Stelle fand sie die Zeichnung einer Bache mit ihren Ferkeln und die eines Rehkitzes, das von der Ricke gesäugt wurde.
»Sind das deine Werke?«, fragte eine Stimme hinter ihr.
Erschrocken riss Anna Maria den Kopf hoch. Als sie Veit erblickte, beruhigte sich zwar ihr Herzschlag, doch sie wurde verlegen, und ihre Wangen röteten sich leicht.
»Du musst dich dafür nicht schämen, Anna Maria. Die Bilder sind wunderschön. Die Tiere, die du hier gezeichnet hast, sind so wirklichkeitsgetreu abgebildet, als ob sie leben würden. Man könnte meinen, dass sie jeden Augenblick weglaufen würden.«
Veit besah sich jede Zeichnung genau. »Ich habe nicht gewusst, dass ein Mensch dazu fähig ist. Man könnte meinen, dass Teufelshand diese Bilder erschaffen hätte.«
Ungläubig starrte Anna Maria ihn an. »Wie kannst du so reden?« , flüsterte sie.
Veit war sich nicht bewusst gewesen, was er gesagt hatte. Als er jedoch sah, wie Anna Marias Gesicht sich veränderte, zog er sie in seine Arme. »Es tut mir leid, Liebes, wenn ich etwas Falsches gesagt habe«, murmelte er in ihr Haar.
Anna Maria erklärte mit leiser Stimme: »Mein Bruder Peter hat vor einiger Zeit das Gleiche über meine Zeichnungen geäußert. Vielleicht bin ich tatsächlich verhext.«
»Nein, so war es nicht gemeint!«, versicherte Veit, und Bewunderung klang in seiner Stimme. »Ich weiß, dass dahinter kein böser Zauber steckt. Du hast anscheinend nicht nur die Gabe, mit Sterbenden zu sprechen, sondern auch die Fähigkeit, Bilder so zu zeichnen, dass sie natürlich wirken.« Veit lachte leise auf und hielt Anna Maria auf Abstand. »Weißt du noch, als du mich als Wolfsmensch in der Höhle gezeichnet hast? Ich bekam einen mächtigen Schreck vor dem Ungeheuer. Doch jetzt weiß ich, dass ich so ausgesehen haben muss. Es grenzt an ein Wunder, dass du nicht sofort die Flucht ergriffen hast.«
Auch Anna Maria musste lachen. Sanft strich sie Veits kinnlanges Haar zurück. »Es waren deine blauen Augen, die mich daran gehindert haben, fortzulaufen. Außerdem war ich verletzt und froh, dass ich noch mein Leben hatte.«
Voller Bewunderung blickte Veit Anna Maria an, die spürte, wie sie erneut errötete. Behutsam zog er sie in seine Arme und küsste sie. Beide stöhnten leise auf und ließen sich zu Boden gleiten. Das trockene Laub unter ihnen raschelte, als sie sich darauf wälzten. Veit vergrub seine Hände in Anna Marias Haaren, da er Angst hatte, sich nicht beherrschen zu können.
»Heirate mich!«, stöhnte er. »Dann hat das alles endlich ein Ende, und wir können wie Mann und Frau zusammenleben.«
Anna Maria setzte sich auf und zupfte trockene Laubstückchen aus ihren honigfarbenen langen Haaren.
»Was hat ein Ende?«, gurrte sie.
Schmunzelnd pflückte Veit kleine Zweige von ihrer Kleidung. »Du weißt, was und wie ich es meine!«
Anna Maria schüttelte den Kopf. »Erklär es mir!«
»Ich will dich nicht einfach nur nehmen, obwohl ich mich kaum noch beherrschen kann«, stöhnte er. »Du bist ein ehrbares Mädchen, und deshalb soll alles seine Richtigkeit haben.«
Seine Augen, so tiefblau wie ein wolkenloser Himmel, wurden dunkel.
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