Schwur der Sünderin
fauchte Jakob. »Ich will gar nicht wissen, wie ihr einen Leichnam über mehrere Tage über Land befördert habt, ohne dass es aufgefallen ist«, sagte er erregt.
In diesem Augenblick wurde der Wind stärker. Unbewusst schaute Anna Maria zu der Stelle des Friedhofs, an der sie während der Beerdigung geglaubt hatte Matthias stehen zu sehen. Erneut stellte sie sich vor, dass der jüngere Bruder dort stand und sie anlächelte. »Schaut!«, flüsterte Anna Maria. »Matthias ist uns wohlgesonnen und mit unserer Entscheidung zufrieden.«
Jakob und Peter blickten zu der Ecke, in die ihre Schwester zeigte, aber sie konnten nichts erkennen.
»Du bist nicht bei Sinnen«, schalt Jakob sie. »Da ist nichts, und bestimmt nicht Matthias.« Verärgert drehte er sich um und stapfte eiligen Schrittes nach Hause.
Peter nahm seine zitternde Schwester in den Arm. »Sei unbesorgt, Anna Maria! Wir haben nichts Falsches getan. Kümmere dich nicht um Jakobs Geschwätz. Er ist nur traurig und kann seine Gefühle nicht zeigen.«
Obwohl die Hofmeister-Familie gehofft hatte, dass das Gesinde Jakobs Wunsch achten würde, wussten die Mehlbacher, Schallodenbacher und Katzweiler Nachbarn bereits am nächsten Tag von Matthias’ Tod. Als der Pfarrer am darauf folgenden Sonntag
für die Seele des gefallenen Burschen betete, stimmten sofort alle in die Gebete mit ein.
Nach der Messe standen Jakob, Peter und Anna Maria mit versteinerten Mienen am Kirchenportal und nahmen die Beileidsbekundungen der Kirchgänger entgegen. Jeder von ihnen sagte Nettes über den toten Bruder, sodass Anna Maria die Tränen kamen.
Veit, der abseits mit Friedrich gewartet hatte, eilte zu Anna Maria und legte den Arm um sie, was die Umstehenden veranlasste, die beiden anzugaffen.
Nicht nur die Kunde von Matthias’ Tod hatte sich rasch verbreitet. Auch dass zwei Fremde mitgekommen waren, war schnell bekannt geworden. Während die alten Weiber, die nun vor der Kirche zusammenstanden, tuschelnd ihre Köpfe zusammensteckten, konnten die jungen Frauen ihre Blicke nicht von Veit abwenden. Kichernd schwatzten sie hinter vorgehaltenen Händen über das schneidige Aussehen des fremden Mannes. Der jedoch schien nur Augen für das Hofmeister-Mädchen zu haben.
Veit sprach leise auf Anna Maria ein, die sich beruhigte und sehnsuchtsvoll zu ihm aufschaute. Liebevoll strich er ihr über die Wange und küsste ihre Stirn. Als sie ihn überrascht anschaute, zwinkerte er ihr zu. Manche der jungen Frauen seufzte leise und wünschte sich an Anna Marias Stelle.
Die Alten hingegen schüttelten empört die grauen Köpfe. Sie verurteilten solch unzüchtiges Verhalten in aller Öffentlichkeit und vor einem Gotteshaus, was in ihren Augen Sünde war.
Die Männer musterten Veit mit neugierigen Blicken. Seine Landsknechtstracht ließ sie an Abenteuer denken, von denen sie nur träumen konnten. Zwar war der Stoff des Waffenrocks schäbig und abgetragen, doch das bunte Gewebe sah nach Tatendrang, Verwegenheit und Abenteuer aus. Das Hemd mit den gepluderten Ärmeln, die in zerschnittenen Streifen herabhingen,
wirkte ebenso fremd wie die grünen Pluderhosen, die bis zu Veits Schuhen reichten. Gerne hätten die Burschen ihn nach seinen Taten befragt. Doch er gab ihnen dazu keine Gelegenheit, denn er legte seinen Arm um Anna Marias Schulter und führte sie nach Hause.
Jakobs Frau Sarah sah den beiden nach. Dann wandte sie sich Nachbarn und Freunden zu, um sie für den folgenden Sonntag zum Mittagessen auf den Hofmeister-Hof einzuladen.
»Wir wollen Peters und Anna Marias Rückkehr feiern!«, erklärte sie und versuchte Freude in ihre traurige Stimme zu legen.
Alle versprachen zu kommen, nur der alte Nehmenich moserte: »Was ist mit dem Leichenschmaus?«
Bestürzt blickte Sarah ihn an und sah dann Hilfe suchend nach ihrem Mann.
»Es gibt keine Beerdigung«, erklärte Jakob, »und somit auch keinen Leichenschmaus. Jedoch laden wir dich ein, die Rückkehr meiner Geschwister zu feiern.« Als der Bauer ihn mit zusammengekniffenem Gesicht anstarrte, fragte Jakob unwirsch: »Wirst du kommen?«
Nehmenich wusste, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Es war bekannt, dass er den alten Hofmeister nicht mochte und seit Jahren gegen den Bauern hetzte. Jetzt, da Daniel Hofmeister auf Wallfahrt war, wandte sich Nehmenichs Groll gegen dessen Kinder.
Zwar hatte es nie einen Streit zwischen den beiden Familien gegeben, doch Nehmenich hasste Hofmeister, weil der ein freier Bauer war und Sonderrechte
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