Schwur der Sünderin
sich einzuatmen.
Angst, dachte der Kerkermeister und schloss die Zellentür auf. Ich kann seine Angst riechen. Er schlappte zum Eimer, um den Becher zu füllen. Dann öffnete er die Zelle und trat ein. Der Alte musste nicht mehr mit der Fackel leuchten, denn das schwache Licht des Vorraums reichte ihm aus, um sich zurechtzufinden. Er wusste, dass der Gefangene immer an der gleichen Stelle lag – vier Schritte vom Eingang entfernt. In Gedanken zählte der Alte mit: eins, zwei, drei, vier. Dann machte er einen
Schritt nach links und kniete sich neben ihn. Er hob den Kopf des Geschundenen leicht an und sah, dass der Mann bewusstlos war. Zuerst wollte er ihn wachrütteln, doch dann legte er den Kopf des Gefolterten sachte zurück.
Schlaf, mein Junge, dachte der Alte. So spürst du keine Schmerzen. Da der Kerkermeister aus eigener Erfahrung wusste, dass trinken lebenswichtig war, benetzte er die Lippen des Mannes, der sein Sohn hätte sein können. Obwohl der Gefangene besinnungslos war, leckte er sich über die Lippen.
»So ist es gut. Trink, mein Junge, trink«, murmelte der Alte und befeuchtete erneut den Mund des Gefangenen.
»Es reicht«, keifte der Fremde an der Tür. »Komm sofort aus der Zelle, du Schwachsinniger.«
»Du hast mir nichts zu befehlen«, erklärte der Kerkermeister, ohne den Mann anzublicken. Ruhig tunkte er seine Finger in den Becher, um das Wasser auf die Lippen des Bewusstlosen tropfen zu lassen.
In dem Augenblick stürmte der Mann in das Verlies und zog den Alten an seinem Umhang auf die Beine. »Du verlässt augenblicklich die Zelle«, schrie er wie besessen.
Der Kerkermeister wandte sich ihm furchtlos zu und musterte ihn aus seinen wässrig-trüben Augen. »Du bist zwar gekleidet wie ein Soldat, doch jede Pore deines Körpers verströmt den Geruch der Angst. Was hat der Mann getan, dass du selbst jetzt, da er unfähig ist, sich zu regen, so stinkst?«
Der Alte sah, wie der Fremde seine Faust hob.
»Ich habe keine Furcht vor dir!«, murmelte der Kerkermeister.
Der Mann holte zum Schlag aus – und ließ die Faust wieder sinken. Er warf einen letzten Blick auf den Gefangenen und stieß den Alten zur Seite. Mit hastigen Schritten durchquerte er den Vorraum und stieg die Treppe hinauf.
Anna Maria blickte von ihrer Arbeit auf. Sie saß am Tisch in Elses Hütte und löste die Kastanien aus der Schale, um einen Brei zu kochen. Else war im Stall und fütterte die Hühner.
Um Anna Marias Augen lagen dunkle Schatten. Seit mehreren Nächten fürchtete sie sich davor einzuschlafen und versuchte krampfhaft, wach zu bleiben. Der Gedanke, dass Veit ihr im Traum erscheinen könnte, um von ihr Abschied zu nehmen, raubte ihr fast den Verstand. Anna Maria war eines Nachts aufgewacht und hatte ein Gefühl gehabt, als ob man ihr mit glühenden Zangen Fleisch aus dem Körper zwacken würde. Seitdem fürchtete sie, dass Veit Schlimmes erleiden musste.
Sie schloss die Lider, umfasste das Medaillon und sah Veits Gesicht vor sich. Sie sah seine himmelblauen Augen, die sie anstrahlten und die einen Hauch dunkler wurden, wenn er ihren Namen flüsterte.
Mit aller Kraft versuchte sie in sich hineinzuspüren und öffnete nach einer Weile erleichtert die Augen. »Er lebt!«, flüsterte sie und dankte still ihrem Schöpfer.
Anna Maria starrte auf die glänzenden dunkelbraunen Früchte in ihrer Hand. Hauser ist schon eine Woche fort, überlegte sie. Ob er Vater gefunden hat? Behutsam ritzte sie mit dem Messer die Schale auf, die sie auseinanderriss, um die helle Frucht zu entnehmen. Die Kerne warf sie in den Kochtopf, die Schalen daneben. Bei der nächsten Kastanie hielt Anna Maria erneut mit ihrer Arbeit inne. Wie wird es sein, wenn ich Vater gegenüberstehe?
In Mehlbach hatten Hauser und Gabriel ihr und ihren Brüdern Geschichten erzählt, die das Bild eines Mannes zeichneten, der nicht ihr Vater war. Immer wieder waren die beiden Männer ins Schwärmen geraten, wenn sie vergangenen Zeiten mit Joß Fritz, wie sie ihren Vater nannten, nachtrauerten. Seit Anna Maria die Abende mit Else in Lehen verbrachte, schilderte auch diese einen großartigen Mann, der wagemutig den Armen
und den Unterdrückten helfen wollte und der von vielen Menschen im Reich verehrt und geachtet wurde – Joß Fritz, der auch ihr Vater Daniel Hofmeister war.
Seitdem hatte sich Anna Marias Bild von ihrem Vater verändert. Die Gestalt des Bauern Hofmeister verblasste, und die des Bundschuh-Rebellen Fritz drängte sich in ihr
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