Schwur der Sünderin
Ullein das hörte, stellten sich ihm die Nackenhaare auf vor Furcht, und er brüllte: »Schlagt ihn nieder, bevor er sich in einen Werwolf verwandeln kann.«
Sogleich stürzten sich die bewaffneten Bauern auf Veit, doch er wehrte sich vehement. Als Peter und Friedrich ihm zu Hilfe eilen wollten, wurden sie brutal niedergestoßen.
Veit schlug wild um sich. Die Angst schien ihm ungeahnte Kräfte zu verleihen. Trotzdem wurde er an Armen und Beinen verletzt, sodass er wie ein verwundeter Wolf die Zähne fletschte und aufbrüllte.
Ullein beteiligte sich nicht an dem Kampf, sondern ließ Veit nicht aus den Augen. Er stand da, bereit, ihn mit seinem Schwert aufzuschlitzen, sobald es Anzeichen einer Tierverwandlung geben würde. Als Ullein sah, wie Veit sich wehrte, rief er den Bauern zu: »Legt den Werwolf in Ketten.«
Die Menschen in der Kirche, die wie gelähmt das Geschehen verfolgt hatten, brüllten nun voller Furcht durcheinander. Als jemand rief: »Die Bestie wird uns fressen!«, versuchten alle gleichzeitig aus der Kirche zu fliehen. Winselnd krabbelten einige über die Bänke, während andere den Mittelgang entlangliefen und dabei rücksichtslos zur Seite gestoßen und überrannt wurden. Kinder weinten, und Alte kreischten. Der Innenraum der Kirche erbebte von dem Angstgeschrei der Menschen. Sogar der Pfarrer versuchte in seine Sakristei zu fliehen, doch als ihm der Weg abgeschnitten wurde, verkroch er sich zitternd unter dem Altar.
Nehmenich, der sich abseits gehalten hatte, sah den Zeitpunkt
gekommen, sich Gehör zu verschaffen. Er kletterte auf einen Sockel, sodass alle ihn sehen konnten, und brüllte, so laut er konnte: »Fürchtet euch nicht!«
Als die Ersten zu ihm aufblickten, rief er erneut: »Fürchtet euch nicht!«
Plötzlich herrschte Ruhe in der Kirche. Auch die kämpfenden Bauern ließen von Veit ab, bewachten ihn jedoch, sodass er nicht fliehen konnte. Als sich Nehmenich gewiss war, dass man ihm zuhören würde, hob er einen Wolfspelz in die Höhe. Sofort ging ein Aufschrei durch die Menge, doch Nehmenich brüllte ihnen zu: »Ich habe das Fell des Werwolfs. Ohne das kann er sich nicht verwandeln.«
Ullein schritt auf Nehmenich zu und sagte mit lauter Stimme, sodass es alle hören konnten: »Erzähl ihnen, was deine Kinder im Wald beobachtet haben.«
Die Blicke der Menschen folgten Nehmenich, als er sich vor ihnen aufbaute, und während er berichtete, schienen sie an seinen Lippen zu hängen. Er genoss es, im Mittelpunkt zu stehen, auch wenn ihm die Geschichte immer noch kalte Schauer über den Rücken jagte.
Veit blickte sich um und konnte nicht fassen, was er sah. Er war umringt von Männern mit Mistgabeln, Äxten und Sensen, die bereit waren, ihn zu töten. Er blutete an Armen und Beinen aus zahlreichen Wunden, die ihn schmerzten.
Das kann nur ein böser Traum sein, dachte er und schaute zu Anna Maria, die weinend dastand – festgehalten von zwei jungen Bauern, die sie spöttisch anstarrten.
Anna Marias Haar hatte sich aus der Haube gelöst und klebte in Strähnen in ihrem tränennassen Gesicht. Das Glück, das sich noch vor wenigen Augenblicken in ihren Augen gespiegelt hatte, war verschwunden. Veit erkannte in ihnen nichts außer blanker Angst.
Angestrengt versuchte er, einen Plan zu ersinnen, um sich aus
dieser Lage zu befreien. Er blickte verzweifelt zu Peter, Hauser, Friedrich, Jakob und Gabriel, die zwar seinen Blick erwiderten, doch musste er einsehen, dass sie ihm nicht helfen konnten.
Was Nehmenich den Menschen erzählte, klang unfassbar und flößte ihnen Furcht ein. Peter schüttelte ungläubig den Kopf und wandte sich von Veit ab. Ebenso Jakob, der Bader und Friedrich. Nur Hauser starrte Veit weiterhin an und blickte dann zu Anna Maria.
Veit spürte, wie er durch den Blutverlust der zahlreichen Verletzungen schwächer wurde.
Ich werde bald keine Kraft mehr haben, mich zu wehren, dachte er und spürte zum ersten Mal seit dem Tod seiner Mutter, dass ihm Tränen in die Augen traten. Kaum noch fähig, sich auf den Beinen zu halten, ging Veit keuchend vor Schmerzen in die Knie. Als Anna Maria aufschrie, schaute er sie an und murmelte: »Vergib mir!«
Anna Marias Antwort hörte er nicht mehr, sondern nur noch das Brüllen der Menschen: »Verbrennt den Werwolf!«
Dann wurde ihm schwarz vor den Augen.
Kapitel 18
An einem geheimen Ort, Juni 1525
Seit Ende Februar versteckten sich Joß Fritz, Kilian und einige andere Männer im Schwarzwald nahe dem Schluchsee. Sie
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