Schwur des Blutes
die Gefahr hin, dass sie vollkommen ausrasten würde. Doch obwohl er die letzte Dosis ihres Sedativums zurückgehalten hatte, lebte sie inzwischen in ihrer eigenen Welt. Sie erkannte ihn als ihren Sohn, aber dass ihrem Ehemann Zeemore das Leben genommen worden war, dass sie getötet hatte, schien aus ihrem Gehirn gelöscht. Ihre Gesichtszüge wirkten, wie sie damals vor all den Schicksalsschlägen ihrer Familie aussahen; entspannt, elfenbeinfarben, zeitlos schön. In dieser Einrichtung sorgten sie wahrlich fürstlich für sie. Denn wenngleich er unangekündigt aufgetaucht war, glänzte Elena-Joyce’ oberschenkellanges, dunkelrotes Haar wie frisch gewaschen und mit liebevoller Sorgfalt gebürstet.
Timothy senkte den Kopf und dankte Jonas im Stillen. Dennoch schmerzte es, dass die Unterbringung seiner Mutter nicht sein Verdienst war.
Sie wandte sich ihm zu und lächelte, als er sie anblickte. „Mein Junge.“
Mit einem Taschentuch tupfte er ihr Speichel aus dem Mundwinkel. Ihre Stimme erklang voller Stolz. „Ja, Mama. Ich bin da.“
„Was bedrückt dich, mein Sohn?“
„Nichts.“ Alles!
„Die Liebe, ich verstehe.“
Er wollte sie glücklich sehen. Wenn er sie verließ, sollte sie wegen ihm keinerlei Sorgen hegen. „Durchschaut. Aber die Liebe bedrückt mich nicht. Meine Frau verwirrt mich nur.“ Er lächelte.
Sie nickte wissend. „Höre einfach auf dein Herz, mein Sohn.“
„So wie du es getan hast.“ Timothy schlug sich beinahe auf den Mund. Das hatte er nicht sagen wollen. Stolz auf seine Mutter, die sich gegen jeden Zwang mit einem Halbblüter verbunden hatte, hatte ihn plappern lassen.
„Ja, Zeemore ist meine große Liebe.“
Timothy hielt den Atem an. Sie hatte ebenso vergessen oder verdrängt, dass sie Ehebruch mit einem Reinblüter begangen hatte. Außer … Gott, durfte er ihr das antun? Durfte er ihre bösen Erinnerungen wachrufen? Vielleicht erzählte sie von selbst, wenn er sie in die Richtung lenkte? „Mom, du erinnerst dich an Josephine?“
„Meine Tochter“, hauchte sie und plötzlich standen ihre blauen Augen in Tränen. „Geht es ihr gut?“
Timothy legte ihr den Arm um die Schultern und sie lehnte sich sogleich an. „Ja, ihr geht es sehr gut. Sie lässt dich lieb grüßen.“
Sie schwiegen.
„Mom?“
„Ja?“
„Wer ist Josephines Vater?“
„Zeemore.“
„Mom, das kann unmöglich stimmen und das weißt du auch.“
„Zeemore.“
„Mom, beruhige dich. Es ist alles …“
„Zeemore!“
Shit! Er wollte Elena-Joyce besänftigen, streichelte ihren Arm, doch sie stieß ihn äußerst kraftvoll weg, sodass er von der Bank fiel.
„Zeemore! Zeemore! Zeemore!“, rief sie, sprang auf und stampfte immer wieder mit einem Fuß auf.
Zwei Pfleger eilten herbei und nahmen sie fürsorglich in ihre Mitte. Timothy reichte einem Betreuer ihre Tablettenschachtel. Dieser gab Elena-Joyce ihre Pillen mit einem Glas Wasser. Seine Mutter seufzte auf, als würde sie endlich Luft bekommen.
Timothy kam sich vor wie ein Idiot, schämte sich, sein Wohl über ihres gestellt zu haben. Ihr Wissen könnte ihm weiterhelfen. Gleichzeitig wusste er, dass er sie niemals erneut fragen würde. Er registrierte, dass die Pfleger sie auf ihr Zimmer bringen wollten, und hob eine Hand. „Ich hab dich lieb, Mom. Bis bald.“
Die Wirkung der Tabletten fegte ihre Schmerzen und den allumfassenden Hass davon, der sie sonst längst aufgefressen hätte, wie der Doktor ihm einst erklärt hatte. Dennoch wand sie sich aus dem Halt der zwei Vampire und fiel eher, als dass sie lief in Timothys Arme. Sie schluchzte.
„Zeemores Tochter, mit hellgrauen Augen. Zeemores Tochter, Josephine.“
Timothy drückte sie sanft an sich, spürte den zarten Körper, seine innige Verbundenheit mit ihr und schwor, sein Problem zu lösen, all seine Probleme zu lösen und zurückzukommen. Zurück zu ihr! „Ich liebe dich, Mom.“
Einer der Pfleger hob sie in einen Rollstuhl und Elena-Joyce dämmerte glücklich dahin. Timothy dankte ihnen mit einem Nicken und verließ wie der Wind das weitläufige, abgesperrte und durch Magie gesicherte Gelände. Er rannte, bis er allein in einem Wald stand, dann brach er auf die Knie. Gab es denn niemanden, der ihm weiterhelfen konnte? Er warf seine Tabletten ein und rammte sich die Fäuste im Rhythmus des Mantras auf die Schläfen: Erinnere dich! Erinnere dich! Erinnere dich! Doch der eisige Nebelschleier wollte sich nicht heben.
Eine sanfte Eroberung seines Kopfes ließ ihn erstarren. Jegliche Kraftanstrengung, den
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