Schwur des Blutes
gleichsam stürmisch. Er legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. „Schön, dass du da bist, Amy.“ Dann schlenderte er die Flure auf und ab, ließ den Frauen Zeit, sich auszutauschen, auch wenn er jedes Wort verstehen konnte.
Nyl witterte er bereits, als dieser keine fünf Minuten nach Amy wie mit einer Bugwelle durch den Haupteingang rauschte und zielstrebig die Treppen zur Intensivstation erklomm. Jonas ahnte, dass Nyl sich oft in Amys Nähe aufhielt, aber er verkniff sich einen spöttischen Kommentar und schlug in die schwarze Pranke ein.
„Alles klar?“, fragte Nyl und schickte seine Sinne aus. „Er hört sich ganz gut an.“
„Greg wird es schaffen.“
Jonas dachte bewusst an all das, was in den vergangenen Stunden geschehen war und er aus den Erzählungen von Cira,
Elassarius und Gentarras wusste, um Nyl einen Eindruck zu vermitteln.
„Fucking hell! Da ist man ein Mal unterwegs und du baust nur Scheiße.“
Jonas verübelte ihm die Äußerung nicht. Nyl ärgerte sich, den Spaß, der keiner gewesen war, verpasst zu haben. „Wolltest
du nicht in San Francisco bleiben? Dein Lager aufschlagen?“
„Hm.“
Typisch. Sein Leben lag offen, das von Ny’lane glich einem Fass Tinte. „Ohne Greg und ohne seinen Hund Elvis hätte es
böse enden können.“
„War ein geschickt gewählter Zeitpunkt“, brummte Nyl.
„Gewiss kein Zufall.“ Dabei fiel Jonas ein, dass er sein Versprechen noch nicht eingelöst hatte. Er zückte sein Handy und
wählte Timothys Nummer. Keiner nahm ab, weder die Mailbox noch Timothy. Mist! Dann später. Er musterte Nyls Mantel. „Du kannst dein Fernbleiben gleich wiedergutmachen.“
Ein Knurren gelangte an seine Ohren. Nyl beugte das Gesicht zu ihm herab und strich mit einem Finger die in Abschnitte rasierten Brauen entlang. Jonas ignorierte die Provokation. Wenn Nyl ihm nicht sagen wollte, was er trieb, dann eben nicht. Er ging über den Flur zu Cira, die leise mit Amy redete. „Ich muss ein paar Telefonate führen, kann ich euch kurz allein lassen? Nyl bleibt bei euch.“
Ny’lane hatte eindeutig seine Gedanken gelesen. Der kaum wahrnehmbare hellere Schein hinter der dunklen Sonnenbrille hatte ihn verraten. Gut so, Nyl sollte ruhig wissen, was er vorhatte. Es schmeckte dem Großen nur nicht, dass er nicht dabei sein durfte, sondern als Wachhund fungierte.
Falls ich etwas finde, bist du mit im Boot , dachte er, ohne Ny’lane anzusehen. Er wandte sich Richtung Treppenaufgang, drehte sich aber erneut zu Cira um und legte seine Finger auf ihre kühle Wange. Sie lächelte ihn an, schmiegte ihr Gesicht an die Handinnenfläche. Jonas ergab sich der flüchtigen Liebkosung, ließ beruhigende Gefühle zu ihr strömen. Die Zuneigung stand in drastischem Kontrast zu der Brachialgewalt, die sie gerade erlebt hatten und die ihnen höchstwahrscheinlich noch bevorstand und ihrer aller Herzen bewegte.
Eine Handyfanfare ließ sie allesamt zusammenzucken. Amy murmelte Entschuldigungen und Flüche, während sie ihre Tasche durchwühlte und gleichzeitig, dem Schild No cell phones – thank you! Folge leistend, über den Flur zur Treppe huschte. Einen Atemzug später erschien sie wieder und drückte demonstrativ den Ausknopf. „Sam.“
„Wer?“, fragte Cira.
„Franziska Samantha Wolters.“
„Die aus deinem Artikel?“
Amy sah zu Jonas auf und nickte. „Ja, sie nimmt sich ein paar Tage Auszeit und geht wandern oder so.“ Jonas erinnerte sich nur allzu gut an Amys hoffentlich letzten Pressebericht, der sich um Homo animals drehte und ihre
Existenz enthüllte, auch wenn sich die Situation inzwischen dramatisch verändert hatte. Werwolf tötet Extremsportler! Schwester Franziska sinnt auf Rache, Vollmondabhängigkeit ein Mythos? Sofern Amy nun bei Cira blieb und Sam wandern ging, so hatte sich zumindest das Problem der zwei werwolfjagenden Menschenfrauen erledigt. Hoffentlich. „Bin gleich zurück.“
Jonas benötigte keine zehn Minuten, um sich in dem riesigen Komplex zurechtzufinden und in den verschlossenen und geschützten Aktenkeller vorzudringen. In regelmäßigen Abständen horchte er nach Gregs Herzschlag und Ciras Gefühlen.
Er rauschte, ohne Licht gemacht zu haben, an den hohen und unendlich lang erscheinenden Hochregalen entlang. Die Chance, dass er genau hier auf eine Akte oder einen Eintrag stieß, war gering. Ferner hatte er gelesen, dass Krankenakten nach zwei Dekaden von der Klinik vernichtet werden konnten, doch den Gedanken, dass er zu spät kam, ließ er nicht
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