Schwur des Blutes
würde ihn vielleicht als ihren Lebensretter sehen. Dass sie keinerlei Furcht vor den Homo animal hatte, wusste er. Mist, sollte sie aber.
„Du denkst, ich halte dich für verrückt, wenn du mir mehr erzählst, nicht wahr? Was hast du zum Beispiel da draußen im Wald gemacht?“ Seine Stimme klang um einiges tiefer als gewohnt, weil sein Intellekt gegen seine ewiglich vergessenen Triebe, seine Vernunft und seine Begierde ankämpfte.
„Und du?“, wich sie mit einer Gegenfrage aus. Ihr Gesichtsausdruck eine reine Herausforderung, die bloße Verführung.
Auch er rückte mit dem Bauch bis an die Tischkante heran. Ein Schlag und das Teakholz bräche in zwei Teile und er könnte ganz bei ihr sein. Ihm war seine Anfälligkeit bewusst, Intimität kostete ihn nach so langer Abstinenz den Verstand und brachte Gefahr über alle, wenn er ihn verlor. Denn ein Vampir, der sich verband, rastete bei jeder Kleinigkeit sofort aus; kein Windhauch würde je seiner Frau ein Haar krümmen. Er beugte den Oberkörper vor, ein bisschen näher zu ihrem Gesicht, das ihn ständig einlud, sich die Lippen zu lecken und sich vorzustellen, wie er mit ihrer Zunge spielte, an ihrem Ohrläppchen knabberte und sich langsam zu ihrem schlanken Hals vorküsste, wo ihn das beinahe unwiderstehlich lockte, was ihn vor Amys Kostprobe fast gänzlich kaltgelassen hatte. Oder lag es an Sam?
„Na, geht mich ja auch nichts …“
„Doch, ich erzähl’s dir.“
„Du musst nicht. Jeder hat seine Geheimnisse.“
„Meine Familie verlor so gut wie alles, inklusive ihres Rufs.“ Er stockte. Sie sah ihm wieder in die Augen. Aß nicht, trank nicht, sondern folgte seiner Schilderung, seinen Blicken, seinen Lippen. „Ich beerdigte meinen Vater weit außerhalb der Stadt, weil wir aus der Familiengruft verstoßen wurden und weil ich mir kein offizielles Grab für ihn leisten konnte.“
Samantha schob nach kurzem Zögern eine Hand über den Tisch und legte sie auf seine. Die Berührung war tröstlich, bedeutete ihm mehr als tausend Worte; und verdrängte die herbeigerauschte Trauer wie das Pusten einer Mutter auf die Schürfwunde am Knie des Kindes.
„Und deine Mutter?“
„Sie lebt. Aber ihr geht’s nicht so gut …“ Er hatte sich nie für Elena-Joyce’ Sucht oder die daraus resultierenden Taten geschämt, doch nun keimte der Gedanke, was Sam wohl von ihm halten würde, wenn er ihr erzählte, dass sie in einer Art Klapse steckte. Hochsicherheit, weil sie sonst mordete.
Sam tippte seinen Arm an. In ihrer Hand lag ein Handy. Er blinzelte.
„Möchtest du dich erkundigen, ob es ihr gut geht?“
Wie in Trance starrte er auf das Display. „Jetzt?“
„Sie wird sich freuen.“
Er lächelte. „Okay, warum nicht.“ Er stand auf, ging zum Rand des unfertigen Balkons, wählte die Nummer der Anstalt und ließ sich zu seiner Mutter durchstellen. Nach einem kurzen Wortwechsel beendete er das Gespräch. Auch wenn ElenaJoyce’ Stimme durch die Medikamente schleppend geklungen hatte, hatte es gut getan, sie zu hören.
Er legte das Handy auf den Tisch und setzte sich. Nach einer Weile besinnlichen Schweigens kam er auf die Ausgangsfrage zurück. „Und was hast du dort im Wald getrieben?“ Seine Frage wirkte absichtlich nebensächlich, um nicht zu offenbaren, was er fühlte. Außerdem war er gespannt, was sie ihm über ihren nächtlichen Ausflug auftischte.
„Ich habe Werwölfe gejagt.“
Obwohl Timothy es gewusst hatte, überraschte ihn ihre Ehrlichkeit. Ihr Satz klang weder brüchig noch rau noch schnippisch. Und sie sprach in der vollendeten Gegenwart.
„Chris wurde von einem getötet. Ich schulde es ihm, meiner Familie, unserem Traum und mir, dass ich die Wahrheit ans Licht bringe.“
Das war eine bittere Nachricht. Eine zutiefst bittere. Die Fürsten bestraften Wesen, die gegen Menschen vorgingen, aber ihre Hauptaufgabe bestand seiner Meinung nach darin, dass sie jegliche Kenntnis von der Existenz der Homo animal tilgten. Sie mussten allzeit unerkannt unter den Homo sapiens leben. Damit das so blieb, mussten ständig menschliche Gehirne manipuliert werden. Er kannte nur ein Wesen, das imstande war, das Langzeitgedächtnis eines Menschen nachhaltig und ohne großen Schaden zu verändern; Gestaltwandler. Früher oder später würden die fürstlichen Hüter von Sams Machenschaften erfahren und er hatte keinen blassen Schimmer, was sie mit ihr taten, falls ihre Erinnerungen schon zu tiefgründig waren. Vielleicht wusste der Rat es bereits, weil die Wölfe sie verraten
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