Science Fiction Almanach 1983
anderen Mädchen gewandt, fügte sie hinzu: „Da wird sich doch keine von euch ausschließen wollen?! In wenigen Jahren werden wir ein Vertriebsnetz in allen Kulturstaaten der Welt aufgezogen haben.“
„Vertriebsnetz?“ Das Küken guckte entsetzt.
„Ein Vertriebsnetz und Ersatzteillager für antikörperfreie Verpflanzungsorgane in Superqualität!“
Chalila begann zu winseln, sie werde gleich überschnappen.
„Schluß mit dem Gejammer!“ Argos Befehl kam wie ein Peitschenhieb. Gleichzeitig sprang ein suggestiver Ton aus den Lautsprechern der Inselinformation.
Chalila hatte die Anstecknadel verloren, die alle Mädchen zur Uniform tragen mußten. Das Abzeichen lag glänzend auf einer der Fußbodenronden. Schnell bückte sich Tyra und hob es auf. Dies alles geschah aus einem Impuls heraus. Ein zweiter Ton mischte sich zu dem Leitton, ein dritter, vierter … für jedes Mädchen einer, schoß es Tyra durch den Kopf. Sie spürte ihre Spezialfrequenz pfeilscharf in ihre Ohren sausen, taumelte zur Wand und stemmte den Kopf dagegen. Sie wußte nicht, ob sie betete oder laut schrie: Nicht aufgeben, ich darf nicht aufgeben! Hilf mir, Tessa, so hilf mir doch!
Das Schwingungsbündel der Hypnotöne verdichtete sich, stieg stetig an und spiralte sich tiefer und tiefer – in Gehirnregionen, die ihrer Willenskontrolle entzogen waren. Da stach sich Tyra mit aller Kraft die Nadelspitze unter den Nagel ihres linken Ringfingers. Einen Moment lang, einen entscheidenden Moment lang, bestand sie nur aus Schmerz, aus Schmerz, der sogar das Bohren des Hypno-Tonpfeiles in ihrem Kopf inneren auszulöschen vermochte.
Plötzlich schwiegen die Quadrophonielautsprecher. Nur das Keuchen der vier Mädchen war zu hören.
Muja fing sich als erste. „Sagt mal, was war eigentlich hier los?“
Laserma schaute sich um. Sie saß in dem Spiralsessel, in dem die Funktionärin gesessen hatte. „Argo ist weg!“
„War sie überhaupt da?“ fragte das Küken wie eine Schlafwandlerin, die man geweckt hatte. „Muja, was ist denn passiert?“
„Wann?“
„Die letzten beiden Stunden.“
Laserma strich sich plötzlich erleichtert die Locken zurück.
„Nichts“, sagte sie, „wir haben uns gelangweilt, wie gewöhnlich. He, Mädchen, du blutest ja!“
Tyra wußte nicht, daß sie sich die Unterlippe blutig gebissen hatte. Sie ballte die Linke zur Faust. Zwischen den rot lackierten Nägeln fiel der blutende Finger nicht so auf. Die Anstecknadel ließ sie unbemerkt unter den kleinen Wandspiegel fallen. „Halb so schlimm“, sagte sie, während sie ihr Spiegelbild wie das einer Fremden betrachtete.
„Alles halb so schlimm!“ stimmte Muja zu.
Die Mädchen fingen zu lachen an wie nach einem Witz. Und Tyra lachte mit. Sie tat jedenfalls so.
Tyra konnte das Uniformblau nicht länger ertragen. Sie zog sich rasch um: beige Bundfaltenhose, sportliche Joggerschuhe und einen pastellbraunen, weit gestrickten Rollpulli mit Flechtrippenmuster. Vor Verlassen der Wohnspirale schob sie ihren letzten Freizeitbonus in den Entwerter, fuhr mit dem Schneilift ins Oberland und trabte zur Station der Linmot-Bahn.
Tyra wußte nur, daß die verheerende Silvesterflut von 1970/71 den Woar, den breiten Wall aus Geröll und Sand, der bis dahin das Rote Kliff mit dem Weißen Kliff verband, endgültig durchstoßen und entzweigebrochen hatte. Nun erhob sich auf den abrasierten Kalkklippen am Dünen-Nordstrand das moderne Offshore-Hotel. Zwischen seinen charakteristischen Betonstelzen dümpelten elegante Hochseejachten einträchtig neben den plumpen Luftkissenbooten vor ihren Liegeplätzen. Bei unruhiger See verschwanden sie, von automatischen
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