Scream
und seine Haare waren noch nass. Die Schwellung über dem rechten Auge war blauviolett angelaufen.
»Nein. Wer ist sie?«
»Erics sechsundsiebzigjährige Großmutter, seine einzige verbliebene Verwandte. Als sie am ersten Tag kam, um ihren Enkel zu besuchen, ließ man sie nur mit einer bewaffneten Eskorte ins Haus. Am nächsten Tag, als die Presse erfahren hatte, wer sie ist, wurde sie von einem Fotografen angerempelt und umgestoßen. Sie hat sich ein Bein angeknackst. Osteoporose. Jetzt geht sie an Krücken und schluckt Schmerztabletten. Wundert es Sie, dass man ein Foto von ihr gemacht hat, als sie am Boden lag?«
Jack schüttelte den Kopf. Darin herrschte eine Stille wie in einem verlassenen Haus, über das die Nacht hereinbrach. Alles Empfinden war gleichsam ausgeschaltet, und er sah sich gezwungen, in länger werdenden Schatten nach den Umrissen eines Gedankens zu suchen.
Er wusste, was sich anbahnte, und begrüßte es.
»Wie geht’s Ihnen?«, erkundigte sich Duffy.
»Gut.«
Jack schaute zum Fenster hinaus und verstummte.
»Ich habe in den Nachrichten gesehen, was passiert ist. Ist mit dem Mädchen alles in Ordnung?«
»Sie hält sich tapfer«, antwortete Jack mit flacher Stimme.
»Ich nehme an, Sie haben sie in Sicherheit gebracht.«
Jack nickte und warf einen Blick auf die Uhr. Wo zum Teufel bleibt der Psychiater?
»Vor ein paar Tagen habe ich in der Zeitung einen Artikel über diesen Jungen gelesen, der aus Slavitts Scheune fliehen konnte. Darren Nigro, so hieß er, wenn ich mich richtig erinnere.« Duffy legte eine Pause ein und schien darauf zu warten, dass Jack sich dazu äußerte, was aber nicht der Fall war. »Sie haben ihn im Krankenhaus aufgesucht und mit ihm gesprochen, nicht wahr?«
»Ich hab’s versucht.«
»Seine Mutter kam vom Einkaufen zurück, als sie ihn im Schlafzimmer vorfand, erhängt an einem Gürtel. So steht’s in der Zeitung. Er war doch in Therapie und bekam Medikamente, oder?«
Jack wandte sich Duffy zu. »Mir ist nicht ganz klar, worauf Sie hinauswollen.«
»Ich will, dass Sie mit dem Therapeuten sprechen, wenn er endlich kommt.«
»Warum?«
Duffy räusperte sich.
»Weil ich Erfahrung im Umgang mit Seelenklempnern habe?«, fragte Jack, harscher als beabsichtigt.
»Nein, so habe ich das nicht gemeint.« Duffy zuckte mit den Achseln. »Es ist nur so, dass ich mich mit diesen Typen schwertue. Ehrlich gesagt, halte ich nicht viel von deren Zunft. Worte können nicht wirklich helfen, jedenfalls nicht nach meiner Erfahrung. Und nach dem, was Sie alles durchgemacht haben, dachte ich –«
»Ich werde mit ihm reden. Kein Problem.«
Duffy nickte und öffnete seine Marlboro-Packung. Er zupfte eine Zigarette daraus hervor, hielt aber dann inne und sagte: »Sie glauben doch selbst nicht, dass er dem Jungen helfen kann, oder?«
»Einen Versuch wär’s wert.«
»Aber Sie sind skeptisch, stimmt’s?«
Jack seufzte. »Entweder man hört den Dämonen zu, oder man lässt es. Eine andere Alternative gibt es nicht.«
»Und wie war Ihre Entscheidung?«
»Ich bin wohl immer noch in der Grauzone.«
Duffy lachte bitter. »Sind wir das nicht alle?«
LIX
Dr. Stan Temple war knapp eins achtzig groß, hatte ein glattes Gesicht und dichte blonde Haare. Sein dunkelbrauner Maßanzug betonte seine athletische Figur, an der er tagtäglich im Fitnessstudio arbeitete. Sein Gesichtsausdruck erinnerte Jack an einen Studenten, der mit einem Rucksack voller Bücher sein erstes Psychologieseminar besuchte.
»Die Schlüsselkomponente in diesem Szenario ist der Umstand, dass Eric während seiner entscheidenden Entwicklungsjahre sowohl körperlich als auch seelisch misshandelt wurde«, erklärte Temple. Er wirkte nervös, sprach aber klar und wie gedruckt. Jack fragte sich, ob der junge Arzt seine Worte vor einem Spiegel einstudierte. »Aufgrund seiner traumatischen Erfahrungen sind seine Emotionen den Eltern gegenüber ambivalent, insbesondere gegenüber dem Vater. Er weiß, wie sich Wut, Frustration oder Hilflosigkeit anfühlt. Mit solchen Emotionen ist er durchaus vertraut.«
»Deshalb kam es bei ihm zu einer posttraumatischen Stressreaktion, als er das Schlafzimmer betrat«, vermutete Jack. Er hatte sich auf die Bettkante gesetzt, um mit dem Arzt auf Augenhöhe zu sein. Duffy lehnte, abseits stehend, an der Wand.
»Genau«, erwiderte Temple. »Mir scheint, er wird eine gewisse Genugtuung empfunden haben, als er sah, dass sein Vater, der ihn all die Jahre gequält hatte, tot war – wie
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