Scream
Er wollte nicht wahrhaben, was er sah, und glaubte zu halluzinieren. Wenn der Rausch vorbei sei, dachte er, würde er aus diesem Albtraum erwachen, und alles wäre wieder gut.
Der Fotograf, ein großer, korpulenter Mann mit schwarzem Kinnbart und ölig glänzender Haut, blickte von seiner Kamera auf. Als er Jack erkannte, richtete er das Objektiv auf ihn. Das Klicken des Verschlusses war für Jack so laut und schnell wie Maschinengewehrfeuer.
Vier Nachbarn mussten zu Hilfe eilen, um Jack zu überwältigen. Von ihnen in Schach gehalten, fand er sich im Vorgarten wieder. Der Fotograf lag mit gebrochener Nase und violett angelaufenem Gesicht neben ihm auf dem Rasen. Aus seinem geöffneten Mund kamen röchelnde Laute. Alicia Claybrook, eine Krankenschwester, die gleich nebenan wohnte und Hamilton das Haus hatte verlassen sehen, kniete neben dem Verletzten und versuchte zu verhindern, dass ihm die Zunge die Kehle blockierte. Auch Mike Abrams war gekommen. Er stand vor seinem Auto am Bordstein, hielt ein Handy ans Ohr gepresst und sah sich unter den Gaffern um, die auf der Straße zusammengelaufen waren.
Später verteidigte sich Jack, der Fotograf, der für ein Boulevardblatt gearbeitet hatte, habe es nicht anders verdient. Dabei war ihm selbst klar, dass dieser nur zufällig hatte herhalten müssen, nämlich für seine Verzweiflung über Amandas Tod und die Selbstvorwürfe, sie nicht beschützt zu haben, für seine Gewissensqualen, von denen er sich erfolglos zu befreien versuchte.
Dieser Vorfall markierte den Beginn einer Abwärtsspirale aus Alkoholmissbrauch und Wut. Das Büro suspendierte ihn vom Dienst: Das war’s, vielen Dank für alles.
Mike Abrams überredete ihn zu einer Therapie. Er, sein Freund, war für ihn da und kümmerte sich um ihn.
Als Jack nach Vail, Colorado, gezogen war und sich dort als Schreiner über Wasser zu halten versuchte, hatte Mike ihm trotz seiner Proteste einen Posten als Detective hier in Marblehead verschafft. Danach war Jack seinem Freund aus dem Weg gegangen, und auch Mike hatte nichts mehr von sich hören lassen. Seitdem waren drei Jahre vergangen.
Tatsächlich mochte er Mike sehr. Allerdings gefiel ihm nicht, was er in Mikes Augen erkannt hatte.
Jetzt war Mike nach langer Zeit wieder aufgetaucht, angeblich, um zu helfen. Und was tat er, Jack? Er kehrte sich von ihm ab.
Taylor kam auf den Balkon. »Alles okay mit dir?«
»Ja«, antwortete er und blinzelte in den Rauch.
»Du siehst aus, als müsstest du eine Handvoll Heftzwecken schlucken.«
»Ich habe letzte Nacht kaum geschlafen. Aber wenn wir gleich essen, bin ich wieder topfit.«
»Schade, dass Mike gehen musste.«
Jack wendete die Steaks. Eine warme Brise zerzauste Taylors Haare. Sie kämmte sich eine Strähne mit den Fingern hinters Ohr. »Erzähl, was nagt an dir?«
»Nichts von Bedeutung.«
»Sprich mit mir darüber.«
»Es ist nichts, wirklich. Hat soeben jemand angerufen?«
Taylor nickte. »Es war Rachel, meine Nichte. Du erinnerst dich? Die Vierjährige mit dem Hund, der sich wie ihr Leibwächter aufführt.«
»Mr. Ruffles.« Mr. Ruffles war eine fast vierzig Kilo schwere, muskelbepackte Kreuzung aus Boxer und Pitbullterrier. Der Name bezog sich auf das faltige Gesicht. Rachel fand, dass ihr Hund aussah wie ein Kartoffelchip von Ruffles. Woher die Anrede Mr. stammte, blieb ein Rätsel.
»Sie und ihr Köter werden für die nächsten drei Wochen bei uns zu Gast sein. Ich hole sie morgen vom Flughafen ab. Sie ist schon ganz aufgeregt und wollte wissen, ob denn auch Onkel Jack da sei.«
»Ich bin nicht ihr Onkel«, entgegnete Jack ein wenig zu heftig. Du bist wütend. Nimm dich zurück, warnte ihn eine innere Stimme.
»Nimm’s als Kompliment.«
»Tu ich ja. Es ist nur –« Sag es ihr, sei ausnahmsweise einmal ehrlich. »Ich bin müde, mehr nicht. Kümmere dich nicht weiter darum.«
Sie betrachtete ihn mit forschendem Blick, als versuchte sie, seine Gedanken zu lesen.
»Erzähl mir von Mike.«
»Was willst du wissen?«
»Seit wann kennt ihr euch?«
»Seit vielen Jahren.«
»Aus deiner Zeit beim FBI?«
Jack nickte und suchte nach seinem Bier.
»Mike ist Profiler, wie er mir sagte.«
»Stimmt.« Das Bier stand neben dem Grill auf dem Boden.
Bier setzte ihm weniger zu als Whisky. Er bückte sich und griff nach der Flasche.
»Aber er ist kein Profiler, wie du es warst.«
»Richtig.« Jack trank einen Schluck. Es war seine zweite Flasche seit Mikes Weggang. Eine Stimme sagte: Mäßige dich. Du
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