Scream
fähige Berater anzufordern. Warum lässt du dir nicht helfen? Was hast du zu verlieren?«
»Es wird zu keinem Rückfall kommen, wenn es das ist, was du glaubst.« Jack zerknüllte den Zettel in der Faust.
Mike starrte ihn an. »Erinnerst du dich an Dale Gavins?«
»Was ist mit ihm?«
»Er hat nach seinen Ermittlungen in den Kindermorden von Syracuse eine zweijährige Auszeit genommen, ließ sich therapieren, schluckte die Pillen, die ihm verordnet wurden, und war schließlich so weit in Ordnung, dass er seinen Job als Profiler wieder aufnehmen konnte. Vor acht Monaten hat er sich morgens von seiner Frau und der kleinen Tochter verabschiedet, um zur Arbeit zu fahren. Unterwegs machte er an einer Tankstelle halt und ging aufs Klo. Als der Tankwart die Klotür öffnete, sah er Gavins mit einem Messer in der Hand am Boden liegen. Im Bericht der Gerichtsmedizin hieß es, dass er sich mit Blick in den Spiegel die Kehle aufgeschnitten hatte.«
»Warum erzählst du mir das? Glaubst du, ich werde mich umbringen, wenn ich deinen Rat nicht befolge?«
Mike trat näher. »Wie lange ist es nun, dass du nicht mehr als Profiler arbeitest? Sechs Jahre, sieben?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Es hat lange gedauert, bis du wieder mit dir ins Reine gekommen bist, Jack, und du gibst dir nach wie vor große Mühe, einen Teil deines Lebens unter Verschluss zu halten. Aber es könnte sein, dass du von dem, was geschehen ist, wieder eingeholt wirst. Und wenn das passiert, sehe ich schwarz für dich.«
»Gavins war Alkoholiker und schwer gestört.«
Mike verzog das Gesicht. »Auch du hattest ein Alkoholproblem.«
Jack spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. »Das ist kein Vergleich. Und im Übrigen betrachte ich unser Gespräch als beendet. Danke für deine Expertise. Du kannst mir deine Rechnung nach Hause schicken.«
Mike wurde rot. »Taylor ist wirklich eine außergewöhnliche Frau. Ich hoffe, sie wird nicht so bald um dich trauern müssen. Ach, was soll’s …«
Wütend machte Mike auf dem Absatz kehrt und ging auf das Haus zu. Aus der umgedrehten Bierflasche, die er in der Hand hielt, tropften letzte Reste.
V
Mike entschuldigte sich bei Taylor mit dem Vorwand, einen Notfall zu Hause zu haben, und schlug die Einladung zum Abendessen aus. Als Jack ins Haus zurückkehrte, war Mike schon gegangen.
Der Grill stand auf dem breiten Balkon vor dem Wohnzimmer. Mit einer Grillzange wendete Jack die Steaks. Aus der zischenden Glut stieg Rauch auf und ihm ins Gesicht. Taylor hatte den CD-Spieler ausgeschaltet und den lokalen Radiosender WBCN eingestellt. U2s »Mysterious Ways« drang aus den Balkonlautsprechern. Taylor war im Wohnzimmer und zündete auf dem Kaffeetisch ein paar lange Kerzen an. Das weiche, bewegte Licht akzentuierte ihre fein geschnittenen Gesichtszüge.
Bei ihrem Anblick wähnte sich Jack in der Haut eines anderen, dem sehr viel mehr Glück beschieden war als ihm selbst.
Doch anstatt sich auf den gemeinsamen Abend mit Taylor zu freuen, dachte er zurück an einen Vorfall, der sich eine Woche nach der Beisetzung seiner Frau zugetragen hatte.
Weil sein Haus als Tatort von Kriminaltechnikern und Ermittlern in Beschlag genommen worden war, hatte er sich vorübergehend bei Mike einquartiert, der in Arlington, Virginia, wohnte. Dort hatte er die meiste Zeit in Bars verbracht und sich mit Jim Beam auf Eis zu betäuben versucht.
Doch der Alkohol hatte auch dunkle Gedanken und eine Wut ausgelöst, die sich kaum im Zaum halten ließ. Diese Wut hatte ihn, wie es schien, schon lange begleitet, war aber nun von ätzender Schärfe und drängte darauf, hervorzubrechen. Er hatte sie in seinem eigenen Spiegelbild gesehen, und auch die anderen Gäste der Bar sowie die Freunde und Kollegen, die gekommen waren, um ihm ihr Beileid zu bekunden, hatten die Wut in seinen Augen erkannt und unwillkürlich Abstand genommen.
Aus Gründen, die er sich bis heute nicht erklären konnte, war er eines Abends von einer Bar betrunken zu sich nach Hause gefahren, durch die dunklen Räume gewankt und über die Treppe nach oben gestolpert. Durch den Spalt unter der geschlossenen Schlafzimmertür drang Licht. Ein Schatten bewegte sich dahinter.
Der Fotograf blickte nicht auf, als Jack die Tür öffnete; er machte Aufnahmen von den blutbefleckten Stühlen, der eingetrockneten Blutlache auf dem hellbraunen Teppich und den Spritzern, die wie mit wilden Pinselstrichen an die Wände gemalt waren. Jack empfand eine schmerzende Enge in der Brust.
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