Scream
geöffnet. Durch sie drang klassische Musik nach draußen – Tschaikowsky, wie Jack erkannte.
Er näherte sich dem Haus und sah einen brandneuen, silberfarbenen Ford F-250 Pick-up in der Garage stehen. Er betrat die Veranda. Die Tür hinter dem Fliegengitter war geöffnet. Er schaute in ein Wohnzimmer mit angeschlossener Küche, einem L-förmigen Sofa, Bücherregalen und einem Neunzehn-Zoll-Fernseher, der eingeschaltet und auf einen Nachrichtensender eingestellt war. Gut, dachte Jack ein wenig erleichtert. Der Mann war zu Hause.
Jack klingelte. Wartete. Klingelte erneut, klopfte nach einer Weile an und rief Fletchers Namen. Nichts.
Vielleicht ist er rausgegangen. Aber wohin? Der nächste Nachbar wohnte knapp zehn Kilometer entfernt. Er muss in der Nähe sein, dachte Jack. Vielleicht joggt er. Jack glaubte zwar nicht, dass wer hier wohnte, auf Fitness Wert legte, doch möglich war es. So oder so, er musste warten.
Es war erst kurz nach acht und schon ziemlich schwül. Er spürte Schweiß auf der Stirn und im Nacken, seine Jeans und das T-Shirt waren klamm. Er legte einen Aktenordner auf die Dielenbretter der Veranda, nahm darauf Platz und lehnte sich ans Geländer. Ringsum war Wald. Unter die leisen Klänge klassischer Musik mischte sich das Summen von Insekten.
Jack hatte rund sechsunddreißig Stunden nicht mehr geschlafen. Seine Augen fühlten sich an, als wäre Sand unter den Lidern, und das dumpfe Pochen hinter den Schläfen wurde immer schlimmer. Aufgedreht von einer Überdosis Koffein, schlingerten seine rasenden Gedanken wie Autos durch vereiste Kurven. Im Moment fühlte er sich auf merkwürdige Weise entrückt von seiner Umgebung; sie kam ihm vor wie eine Traumkulisse. Er würde auf der Fahrt zurück nach Hause irgendwo anhalten und ein Nickerchen machen müssen.
Dass er hierhergekommen war, hatte weniger mit dem Sandmann selbst zu tun; den eigentlichen Anstoß hatte das Gespräch mit Mike gegeben. Fakt war, die Polizeikräfte von Marblehead (und er selbst, wie sich Jack eingestehen musste) standen vor einem nie da gewesenen Problem, und auch der Bundespolizei fehlte die notwendige Erfahrung, um einen solchen Fall zu stemmen. Er, Jack, musste die Ermittlungen also allein führen. Fakt war auch, dass er es mit einem cleveren, bestens organisierten Psychopathen zu tun hatte, dessen Motive von einer Wut geschürt wurden, die sich über Jahre immer mehr aufgestaut hatte. Momentan amüsierte sich der Sandmann. Aber in die Ecke gedrängt, würde der Mistkerl eine Bombe in die Polizeiwache oder unter Jacks Auto legen. Dass es dazu käme, war nur eine Frage der Zeit. Damit konnte Jack leben, aber wenn er an Taylor dachte, glaubte er, ersticken zu müssen.
Und außerdem war da noch eine andere Wahrheit, eine, die er sich auf der Fahrt hierher eingestanden hatte. Er konnte seinen Instinkten – oder genauer gesagt, den Projektionen seiner Vorstellungen auf die Außenwelt – nicht länger trauen. Sie hatten ihn schon vor Jahren irregeführt und seiner Frau das Leben gekostet. Ließe er ihnen freien Lauf, würde er dem Sandmann vielleicht auf die Spur kommen, gleichzeitig aber Bilder und Empfindungen heraufbeschwören, an denen er, wie er fürchten musste, zugrunde ginge.
Fakt war, Mike hatte recht. Er, Jack, würde die Sache nicht allein durchstehen können.
Das aber wirst du wohl oder übel müssen, wenn es dir nicht gelingt, diesen Fletcher an Bord zu holen.
»Er ist nicht da«, sagte eine Stimme.
Jack öffnete die Augen. Auf der Zufahrt stand ein schrecklich dünner Junge von ungefähr sechzehn Jahren. Die an den Knien abgeschnittene Hose hing ihm schlabbernd um die Hüften, und das graue T-Shirt war abgetragen und verschlissen wie ein Mulltuch. Er trug halbhohe schwarze Turnschuhe, die mit schwarzem Isolierband geflickt und ohne Schnürsenkel waren. Es schien, als habe sich der Junge im Dreck gewälzt.
»Du meinst Malcolm Fletcher?«, fragte Jack. »Er wohnt doch hier, nicht wahr?«
Der Junge zwinkerte wie wild mit den Augen und schien auf etwas zu starren, das nur er sehen konnte. »Wie gesagt, er ist nicht da. Haben Sie was an den Ohren?«
»Weißt du, wo er ist?«
»Irgendwo hier in der Nähe«, antwortete der Junge und deutete mit ausgestreckten Armen im Kreis.
»Wo genau?«
»Geht Sie das was an?«
Jack wollte etwas erwidern, besann sich aber eines anderen.
Es hatte keinen Sinn, dem Jungen Fragen zu stellen. Er schien nicht klar bei Verstand zu sein.
Jack schaute sich um und wischte den
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