Scriptum
anderen
verrieten, dass sie längst nicht so ergriffen waren wie Tess. Für sie war es ein erhabener Moment: eine einzigartige Gelegenheit,
intime Einblicke in das Leben, die Handlungen, das Denken und das Sterben jener legendären Männer zu gewinnen. Das berührte
sie zutiefst. Zugleich bestätigte der Text sämtliche Ahnungen, die sie seit dem Abend des Überfalls gehegt hatte. Ein erwartungsvoller
Schauder überlief sie. Womöglich war das hier ihr Troja, ihr Tutanchamun. Sie fragte sich, ob überhaupt jemand außer ihr die
Entdeckung aufregend fand oder ob der Text für die anderen lediglich ein Indiz in einem besonders rätselhaften Kriminalfall
darstellte.
Was Jansson betraf, so ließ sein Gesichtsausdruck keinen Zweifel offen. «Okay, wir haben also immer noch keine Ahnung,worum es überhaupt geht», fuhr er fort. «Nur dass es klein genug sein muss, dass man es in einem Beutel herumtragen kann.
Aber wenigstens wissen wir jetzt, wo wir nach Vance suchen müssen. In
Fonsalis
.» Jansson warf Hendricks einen fragenden Blick zu.
«Tut mir Leid», entgegnete Hendricks düster. «Da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich habe ein paar Leute darauf angesetzt, aber
bisher tappen wir im Dunkeln. Wir haben nirgendwo Aufzeichnungen darüber gefunden.»
Jansson runzelte ungehalten die Stirn. «Überhaupt nichts?»
«Bislang nicht. Wir sprechen hier über das Europa des dreizehnten Jahrhunderts. Die Kartographie war noch eine sehr primitive
Angelegenheit, und nur ganz wenige Karten aus jener Zeit sind erhalten geblieben, ganz zu schweigen von schriftlichen Aufzeichnungen.
Wir müssen alles durcharbeiten, was uns vorliegt, von damals bis zum heutigen Tag – Briefe, Reisetagebücher und dergleichen. Aber das dauert seine Zeit.»
Jansson lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und strich sich mit einer Hand vom Nacken aufwärts über den Hinterkopf. Sein Gesicht
verdüsterte sich. Ihm war anzusehen, dass er es nicht leiden konnte, wenn ihm im Bereich harter, nachprüfbarer Fakten ein
derartiger Strich durch die Rechnung gemacht wurde.
«Dann hat Vance es vielleicht auch noch nicht herausbekommen», vermutete Aparo.
Tess zögerte, ehe sie sich einmischte. «Darauf würde ich mich nicht verlassen. Es ist sein Spezialgebiet. Hinweise auf einen
solchen Ort kommen vielleicht nicht in bekannten Texten vor, wie Sie sie in Ihren Datenbanken haben. Eher in irgendwelchen
obskuren Manuskripten aus der damaligenZeit, in seltenen Büchern, von denen jemand wie Vance weiß, wo sie zu finden sind.»
Jansson ließ seinen Blick auf ihr ruhen und schien einen Moment lang über ihre Worte nachzudenken. De Angelis, der neben ihm
saß, sah sie unverwandt an. Tess vermochte seinen Ausdruck nicht zu deuten. Von allen Anwesenden musste er am ehesten den
Wert dieser Entdeckung zu schätzen wissen. Doch ihm war keinerlei Gefühlsregung anzumerken. Er hatte während der ganzen Besprechung
noch kein Wort von sich gegeben.
«Tja, wenn wir den Burschen erwischen wollen, müssen wir es jedenfalls rausfinden», grummelte Jansson. Er richtete sich an
De Angelis. «Monsignore, Ihre Leute könnten dabei womöglich eine große Hilfe sein.»
«Gewiss. Ich werde veranlassen, dass unsere fähigsten Gelehrten daran arbeiten. Wir besitzen eine riesige Bibliothek. Ich
bin sicher, es ist nur eine Frage der Zeit.»
«Zeit, die wir vielleicht nicht haben.» Jansson wandte sich an Reilly. «Der Bursche kann sich jeden Moment aus dem Staub machen,
wenn er nicht bereits außer Landes ist.»
«Ich sorge dafür, dass die Kollegen vom CBP die Sache mit oberster Priorität behandeln.» Das Bureau of Customs and Borders
Protection – die Zoll- und Grenzschutzbehörde – war dafür zuständig, zu überwachen, wer und was ins Land gelangte oder es
verließ. «Wo immer es sein mag – es muss irgendwo im östlichen Mittelmeerraum liegen, nicht wahr?» Reilly sah Tess an. «Können
wir das Gebiet, das in Frage kommt, irgendwie näher eingrenzen?»
Tess räusperte sich und überlegte kurz. «Es könnte so ziemlich überall sein. Wenn man bedenkt, wie weit das Schiffvom Kurs abgekommen ist … Haben Sie eine Karte der Region?»
«Sicher.» Hendricks zog das Notebook zu sich heran und tippte etwas ein. Gleich darauf erschien auf dem riesigen Plasmabildschirm
des Konferenzraumes eine Weltkarte. Mit ein paar weiteren Befehlen zoomte er Ausschnitte heran, bis der Monitor schließlich
den Bereich des östlichen Mittelmeers
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