Scriptum
weitere Erklärung zu warten, zog Martin sein Schwert und hebelte damit die Steinplatte auf.
«Halte es auf», bat Aimard, kniete nieder und verstaute den Lederbeutel in der dunklen Öffnung. Dann nickte er dem Jüngeren
zu. «Gut.» Martin ließ die Grabplatte behutsam wieder an ihren Platz sinken. Aimard vergewisserte sich, dass nichts verriet,
dass der Stein bewegt worden war. Er erhob sich, schlurfte zu seinem Lager zurück und ließ sich vorsichtig und unter Schmerzen
darauf niedersinken.
Martin starrte in die Dunkelheit. Viele verwirrende Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Als Aimard de Villiers ihn damals
ermutigt hatte, dem Orden beizutreten, hatte er es als große Ehre empfunden und war sehr aufgeregt gewesen. Während der ersten
drei Jahre hatten sich seine Erwartungen erfüllt. Die Tempelritter waren in der Tat ein ehrenhafter Bund außerordentlich tapferer
Männer, die ihr Leben Gott, den Menschen, der Kirche widmeten. Doch nun, nachdem das Heilige Land verloren war, was sollte
jetzt aus ihnen werden? Martin hatte kein klares Ziel mehr vor Augen.
Andere Dinge, die ihn beunruhigten, drängten nun wieder an die Oberfläche. Über die Jahre hinweg hatte er von unausgesprochenen
Befürchtungen innerhalb des Ordens erfahren. Aus Gesprächsfetzen, die er zufällig aufgeschnappt hatte, wusste er von gewissen
Spannungen zwischen dem Orden und der Kirche. Wo seiner Überzeugung nach enge Bindung und gegenseitiges Vertrauen herrschen
sollten, nahm er Zwistigkeiten und Argwohn wahr. Das ging so weit, dass die Kirche ihnen kürzlich sogar die Hilfe verweigerthatte, als sie Verstärkung anforderten. Damit war das Schicksal der Feste von Akkon besiegelt gewesen. Hatte die Kirche den
Tempel absichtlich dem Verderben preisgegeben?
Martin schob den Gedanken von sich. Gewiss nicht.
Dann waren da die geheimen Versammlungen, die Guillaume de Beaujeu mit nur wenigen ausgesuchten Ordensbrüdern abgehalten hatte,
Versammlungen, aus denen die Männer wortkarg und mit verbissener Miene zurückgekehrt waren. Ältere Ritter wie Aimard de Villiers,
dessen Offenheit und Ehrlichkeit Martin so hoch schätzte, hatten daran teilgenommen. Schließlich die verzierte Schatulle und
der kryptische Wortwechsel zwischen Aimard und dem Großmeister, kurz bevor sie an Bord der
Faucon du Temple
gegangen waren. Und nun dies.
Galt er nicht als vertrauenswürdig?
«Martin.»
Erschrocken wandte er sich Aimard zu, der ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht anblickte. Seine Stimme war nur mehr ein heiseres
Raunen.
«Ich weiß, was du denkst. Aber glaube mir … es gibt Dinge, die du erfahren musst, wenn unser Orden fortbestehen soll. Guillaume hat mich mit dem Wissen und der Aufgabe
betraut, doch …» Ein Hustenanfall schüttelte ihn. Nachdem er sich den Mund abgewischt hatte, fuhr er langsam fort: «Wir beide wissen, dass
meine Reise hier endet.» Er wehrte Martins Protest mit einer Handbewegung ab. «Ich muss dir das Geheimnis anvertrauen. Du
musst die Aufgabe zu Ende bringen, die ich gerade erst begonnen habe.»
Eine Welle von Schuldgefühl überkam Martin. Wie ungerecht seine Gedanken gewesen waren.
«Setz dich zu mir», forderte Aimard ihn auf. Nach einer kurzen Atempause begann der alte Mann zu reden.
«Seit vielen Jahren hütet unser Orden ein Geheimnis. Es ist nur wenigen bekannt; zu Anfang waren neun Männer eingeweiht, und
diese Zahl wurde auch später nie überschritten. Es bildet das Herzstück unseres Ordens und ist die Quelle der Furcht und Missgunst,
die uns die Kirche entgegenbringt.»
Aimard redete die ganze Nacht hindurch. Anfangs lauschte Martin ungläubig, dann empfand er wachsendes Entsetzen, sogar Zorn.
Doch da er all das aus Aimards Mund hörte, wusste er, dass die Geschichte nicht erfunden war. Es konnte nichts anderes sein
als die Wahrheit.
Während Aimard mit zittriger, immer matter werdender Stimme fortfuhr, begann Martin zu verstehen. Sein Zorn schlug in Ehrfurcht
um, er war geradezu überwältigt, als er die edle Absicht erfasste. Aimard war für ihn wie ein Vater, und die innige Hingabe
des älteren Ritters beeindruckte ihn tief. Langsam, aber sicher übertrug sie sich auf ihn, drang mit jedem Wort, das Aimard
sprach, tiefer in seine Seele ein.
Als die Sonne aufging, redete Aimard noch immer. Nachdem er geendet hatte, schwieg Martin eine Zeit lang. Schließlich fragte
er: «Was wollt Ihr, dass ich tue?»
«Ich habe einen Brief geschrieben», antwortete
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