Scriptum
aus Flaschen.
Reilly beobachtete, wie Tess vor Begeisterung leuchtende Augen bekam, als sie eine kleine Pappschachtel öffnete und ein Stück
Lokma
herausnahm. Genüsslich verschlang sie das von Sirup triefende Konfekt.
«Euer Bursche hier ist wirklich ein Geschenk des Himmels», brachte sie heraus, bevor sie sich ein weiteres Gebäckstück in
den Mund steckte. «Probieren Sie mal, die sind köstlich. Als ich das letzte Mal hier war, konnte ich gar nicht genug davon
bekommen. Na gut, ich war zu der Zeit auch schwanger.»
«Wie kam es eigentlich, dass Vance damals mit von der Partie war?», erkundigte sich Reilly, während er sich ebenfalls bediente.
«Mein Vater arbeitete an einer Ausgrabung nicht weit von der Ararat-Anomalie. Vance brannte darauf, sich die Sache einmal
selbst anzusehen, und so hat mein Dad ihn eingeladen.» Tess erzählte, wie 1959 erstmals amerikanische Militärflieger Aufnahmen
der Anomalie von einem Aufklärungsflug mitgebracht hatten; Bilder, die die Fotospezialisten der CIA auf Jahre hinaus faszinierten.
Mit der Zeit sickerte etwas durch, und als die Bilder in den späten Neunzigern endlich freigegeben wurden, lösten sie eine
kleine Sensation aus. Hoch in den Bergen nahe der armenischen Grenze waren im Fels die Konturen eines Schiffsrumpfes zu erkennen.
Detailaufnahmen zeigten sogar drei Linien, die gekrümmte Holzbalkenhätten sein können, die Spanten eines großen Schiffes.
«Die Arche Noah», murmelte Reilly. Er erinnerte sich vage an die Schlagzeilen, die damals durch die Presse gegeistert waren.
«Eine ganze Menge Leute waren sofort angestachelt, unter anderem auch mein Dad. Allerdings gab es da ein Problem: Auch wenn
das Eis des Kalten Krieges zu tauen begann, war dieses Gebiet noch immer hochsensibel. Der Berg ist kaum zwanzig Kilometer
von der russischen Grenze entfernt und etwa dreißig von der iranischen. Einigen wenigen Personen wurde der Zutritt gewährt,
und sie versuchten den Ararat zu besteigen, um sich die Sache aus der Nähe anzusehen. Einer von ihnen war James Irwin, der
Astronaut, der auf dem Mond war und später ein bekennender Christ wurde. Er hat mehrere Expeditionen auf den Berg unternommen.»
Tess schwieg einen Moment lang. «Eine davon hätte ihn beinahe das Leben gekostet.»
Reilly runzelte die Stirn. «Und was denken Sie? Ist es tatsächlich die Arche Noah?»
«Man hat sich allgemein darauf geeinigt, dass sie es nicht ist. Nur eine eigentümliche Felsformation.»
«Aber was denken Sie selbst?»
«Ich weiß nicht recht. Niemand hat sie jemals wirklich aus der Nähe gesehen oder gar berührt. Wir wissen allerdings, dass
die Geschichte von einer Flutkatastrophe und einem Mann mit einem Schiff und allen möglichen Tieren darauf immer wieder in
verschiedenen Schriften auftaucht. Manche davon stammen noch aus dem alten Mesopotamien und sind mehr als tausend Jahre älter
als die Bibel. Ich denke daher schon, dass sich etwas Derartiges tatsächlich ereignethat. Vielleicht nicht die gesamte Erde, aber doch ein großes Gebiet irgendwo in diesem Teil der Welt wurde überflutet, ein
Mann überlebte, und seine Geschichte wurde zur Legende.»
Etwas an der Art, wie sie das sagte, wirkte so entschieden, so endgültig. Nicht dass Reilly unbedingt an die Arche Noah glaubte,
aber … «Komisch», sagte er.
«Was ist komisch?»
«Ich hätte gedacht, gerade Archäologen müssten sich von den Mysterien der Vergangenheit angezogen fühlen und ihnen offener
gegenüberstehen als andere. Mit einem gewissen Staunen angesichts dessen, was sich damals in einer ganz anderen Zeit ereignet
haben könnte … Ihr Ansatz scheint mir hingegen völlig rational und analytisch. Zerstört das nicht den, wie soll ich sagen, den Zauber?»
Tess fand offenbar nichts Widersprüchliches an ihrer Haltung. «Ich bin Wissenschaftlerin, Sean. Genau wie Sie habe ich es
mit harten Fakten zu tun. Wenn ich hingehe und grabe, suche ich nach Belegen dafür, wie die Menschen gelebt haben und gestorben
sind, wie sie Kriege geführt und Städte erbaut haben. Mythen und Legenden überlasse ich anderen.»
«Das heißt, was nicht wissenschaftlich erklärbar ist …?»
«Das ist wahrscheinlich auch nicht geschehen.» Sie stellte die
Lokma
-Schachtel ab und wischte sich mit einer Serviette den Mund, ehe sie sich träge zurücksinken ließ. Auf einen Ellenbogen gestützt,
blickte sie Reilly an. «Ich muss Sie etwas fragen.»
«Schießen Sie los.»
«Am
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