Scriptum
beendete den Satz nicht, doch es war klar, was er meinte:
Auch wenn ich dich letztendlich dadurch verliere.
«Es geht um meinen Vater.»
Tess war nun vollends verwirrt.
«Was hat das mit uns zu tun? Du hast erwähnt, dass du noch klein warst, als er starb, und dass sein Tod dich schwer getroffen
hat.» Sie sah, wie Reilly zusammenzuckte. Schonseit er an jenem Abend bei ihr zu Hause zum ersten Mal davon gesprochen hatte, war ihr klar, dass es für ihn ein heikles Thema
war, aber sie musste erfahren, was dahinter steckte. «Wie ist er gestorben?»
«Er hat sich erschossen. Völlig grundlos.»
Tief in ihrem Inneren spürte Tess, wie sich ein Knoten löste. Ihre Phantasie hatte noch grausigere Erklärungen hervorgebracht.
«Wie meinst du das, völlig grundlos? Irgendeinen Grund muss es doch gegeben haben.»
Reilly schüttelte den Kopf, und ein Schatten legte sich über sein Gesicht. «Das ist es ja. Es gab einfach keinen. Ich meine,
keine Erklärung hätte irgendwie Sinn ergeben. Er wirkte nach außen hin nie trübsinnig oder launisch. Später erfuhren wir,
dass er an Depressionen litt, aber auch dazu bestand eigentlich kein Anlass. Er hatte einen guten Job, der ihm Spaß machte,
eine Frau, die ihn liebte, es ging uns gut. Allem äußeren Anschein nach hatte er ein schönes Leben. Was ihn nicht daran gehindert
hat, sich das Hirn wegzupusten.»
Tess beugte sich wieder zu ihm vor. «Das ist eine Krankheit, Sean. Ein klinischer Zustand, ein chemisches Ungleichgewicht,
wie auch immer man es nennen will.»
«Ich weiß. Das Problem ist, so etwas kann genetisch veranlagt sein. Die Chancen stehen eins zu drei, dass ich es auch bekomme.»
«Und drei zu eins, dass du es nicht bekommst.» Sie lächelte aufmunternd. Er schien nicht überzeugt. «War er in Behandlung?»
«Nein.»
Sie schwieg eine Weile lang nachdenklich. «Hast du dich mal deswegen untersuchen lassen?»
«In meinem Job wird man regelmäßig psychologisch durchgecheckt.»
«Und?»
«Die haben nichts festgestellt.»
Tess nickte. «Gut. Ich sehe auch nichts.»
«Sehen?»
Ihre Stimme wurde sanfter. «In deinen Augen. Da war immer so eine Distanz, als ob du ständig etwas hinter einer Fassade verbirgst.
Anfangs hielt ich es für eine Masche, du weißt schon, Dienstgehabe, der starke, verschlossene Typ.» Sie strahlte eine Überzeugung
aus, die beruhigend wirkte. «Es muss dir nicht auch so ergehen.»
«Aber was, wenn doch? Ich habe das selbst erlebt, und ich habe gesehen, was es mit meiner Mutter gemacht hat. Ich würde nicht
wollen, dass du dasselbe durchmachst oder sonst irgendjemand, an dem mir etwas liegt.»
«Dann willst du dich also vom Rest der Welt abschotten? Ich bitte dich, Sean, das ist, als würdest du mir sagen, wir sollten
nicht zusammen sein, weil, weil dein Dad meinetwegen an Krebs gestorben ist. Wer kann denn schon wissen, was die Zukunft bringt?
Du lebst eben dein Leben und hoffst das Beste.»
«Nicht jeder wacht eines Morgens auf und beschließt, sich mit einer Kugel ins Jenseits zu befördern. Es ist nun einmal so,
dass ich einen Teil von ihm in mir wieder erkenne. Er war damals nicht viel älter, als ich jetzt bin. Manchmal, wenn ich in
den Spiegel schaue, sehe ich ihn vor mir, seinen Blick, seine Haltung, und das macht mir Angst.»
Tess schüttelte sichtlich frustriert den Kopf. «Du hast erzählt, dass euer Priester dir geholfen hat?»
Reilly nickte gedankenverloren. «Mein Dad hatte es nichtso mit der Religion. Er hat den Glauben extrem hinterfragt. Und meine Mutter, sie hat sich wohl angepasst. Besonders gläubig
war sie ohnehin nicht. Nach seinem Tod habe ich mich völlig in mich selbst zurückgezogen. Ich konnte nicht begreifen, warum
er das getan hatte, warum wir es nicht hatten kommen sehen, warum wir es nicht verhindert hatten. Meine Mom war ein völliges
Wrack. Nach und nach hat sie dann immer mehr Zeit mit unserem Priester zugebracht, und der wiederum hat angefangen, mit mir
darüber zu sprechen. Er hat mir geholfen zu verstehen, warum keiner von uns eine Schuld daran trug, und so konnte ich das
Leben wieder von einer anderen Seite betrachten. Die Kirche wurde mein Zufluchtsort, und das habe ich nie vergessen.»
Tess holte tief Luft und versetzte entschlossen: «Also, weißt du, ich rechne es dir hoch an, dass du dir meinetwegen Gedanken
machst und mich warnen wolltest. Das ist wirklich sehr anständig von dir. Aber glaub nicht, damit hättest du mich jetzt abgeschreckt.
Es
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