Scriptum
durchnässte. Als sie an ausgestreckten Armen hing, berührte sie zu ihrer Erleichterung mit den Zehenspitzen festen Boden.
Sie ließ sich ganz hinunter und sah sich um. Der Wasserfluss war hier breiter und tiefer. Der Unrat, der auf der Oberfläche
schwamm, und der widerliche Gestank verrieten ihr, dass sie sich in einem Abwasserkanal befand. Nach mehreren Versuchen, am
Rand entlangzugehen, gab sie es auf. Der Boden war zu schräg und zu glitschig. Tess verdrängte die Gedanken daran, was alles
in dieser Brühe herumschwamm,und stieg mitten hinein. Das Wasser reichte ihr fast bis zu den Knien.
Plötzlich hörte sie ein leises, scharrendes Geräusch, zugleich nahm sie aus den Augenwinkeln eine schnelle Bewegung wahr.
Als sie den Kopf wandte, sah sie kleine, glänzende Pünktchen durch die Dunkelheit huschen – die Augen von Ratten, die an den
Kanalwänden entlangliefen.
«Tess!»
Vance’ Stimme dröhnte durch den Tunnel, hallte von den feuchten Wänden wider und schien von allen Seiten zugleich zu kommen.
Ein paar Meter weiter begann sich das Dunkel ein wenig zu lichten. Tess hastete vorwärts, so schnell es ihr möglich war; sie
wollte auf keinen Fall riskieren, zu stolpern und in diese Brühe zu fallen. Als sie sich der Lichtquelle näherte, stellte
sie fest, dass die Helligkeit von oben, von einem Kanalgitter am Straßenrand kam. Sie hörte Stimmen. Gleich darauf konnte
sie sogar sehen, wie sechs Meter über ihr Leute vorbeiliefen.
Sie schöpfte Hoffnung und begann zu schreien: «Hilfe! Helfen Sie mir! Ich bin hier unten! Hilfe!», doch niemand beachtete
sie. Natürlich nicht – was hast du erwartet? Du bist hier in New York City. Kein Mensch in dieser Stadt käme auch nur im Traum
auf die Idee, irrsinniges Geschrei aus der Kanalisation ernst zu nehmen.
Tess hörte ihre eigenen Schreie durch den Tunnel hallen. Sie lauschte. Geräusche näherten sich, Rauschen und Plätschern. Sie
musste weiter, ehe er sie einholte. Ohne das kalte Wasser und den Unrat zu beachten, setzte sie ihren Weg fort und gelangte
nach wenigen Schritten an eine Gabelung.
Ein Tunnel war breiter, aber auch dunkler und augenscheinlichnasser als der andere. Das bessere Versteck? Vielleicht. Sie entschied sich für diesen. Kaum fünfzehn Meter weiter stellte
sie fest, dass sie wohl die falsche Wahl getroffen hatte: Vor ihr ragte eine senkrechte Ziegelmauer auf.
Sie war in eine Sackgasse geraten.
KAPITEL 37
Nachdem er den Eindringling am Eingang zur Krypta abgewehrt hatte, wollte Vance eigentlich mitsamt der Chiffriermaschine und
dem noch unvollständig entschlüsselten Manuskript durch das unterirdische Tunnelsystem flüchten. Doch nun war ihm nur die
Maschine geblieben. Die Papiere waren fort. Von kalter Wut erfasst, brüllte er den Namen des Mädchens, sodass sein Schrei
laut von den feuchten Wänden widerhallte.
Er hatte nichts gegen Tess Chaykin. Im Gegenteil, er erinnerte sich daran, sie einmal gemocht zu haben, damals, als er noch
fähig war, Menschen zu mögen. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, sie zu fragen, ob sie sich seinem … Kreuzzug anschließen wollte.
Aber jetzt hatte sie die Papiere entwendet,
seine
Papiere, und das machte ihn rasend.
Die Chiffriermaschine fest an sich gepresst, watete er durch den Kanal. Wenn er Tess nicht bald einholte, stieß sie womöglich
auf eine der Luken, die aus diesem verworrenen Labyrinth hinausführten.
Das durfte er nicht zulassen.
Mühsam kämpfte er seinen Zorn nieder. Er konnte nicht riskieren, etwas zu überstürzen und unbedacht zu handeln.
Nicht jetzt.
Und erst recht nicht hier unten.
Tess hatte in der Sackgasse kehrtgemacht und wollte zu der Gabelung zurückgehen, als sie plötzlich eine Metalltür in einer
Seitenwand bemerkte. Sie rüttelte an der verrosteten Klinke, die Tür war nicht abgeschlossen, aber sie klemmte. Mit einer
verzweifelten Kraftanstrengung riss Tess sie auf und sah vor sich eine Wendeltreppe, die nach unten führte. Noch tiefer hinab
in noch größere Dunkelheit, das war nicht das, was sie sich gewünscht hätte, doch ihr blieb keine Wahl.
Behutsam tastete sie mit den Füßen nach jeder einzelnen Stufe, ehe sie ihr Gewicht darauf verlagerte. Nach einer Weile fand
sie sich in einem weiteren Tunnel wieder.
Um Himmels willen, wie viele Tunnel gab es hier unten eigentlich?
Immerhin war dieser noch geräumiger als der vorige und vor allem trocken. Was immer das hier sein mochte, es war kein
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