Scriptum
normalerweise zurückhaltende, introvertierte, Pfeife rauchende
Menschen, keine –»
«Irren?»
Tess runzelte die Stirn. Der Begriff erschien ihr nicht recht passend, trotz allem, was geschehen war. «Ich glaube, so weit
würde ich nicht gehen, aber … er ist nicht in der besten Verfassung, so viel steht fest.» Zu ihrer eigenen Verblüffung empfand sie einen Anflug von Mitgefühl
für den Professor. Sie hörte sich selbst sagen: «Er braucht Hilfe.»
Reilly musterte sie einen Moment lang schweigend. «Okay. Sobald Sie sich erholt haben, brauchen wir eine umfassende Aussage
von Ihnen, aber zuallererst müssen wir herausfinden, wohin er Sie gebracht hat. Sie haben keine Ahnung, wo Sie gefangen gehalten
wurden? Wo sich dieser Keller befindet?»
Tess schüttelte den Kopf. «Nein, das sagte ich ja schon. Als ich im Auto kurz zu mir kam, waren meine Augen verbunden, und
herausgekommen bin ich durch ein riesiges Labyrinth finsterer Gänge. Aber es kann nicht allzu weit vonhier entfernt sein. Ich meine, schließlich bin ich zu Fuß geflüchtet.»
«Wie viele Straßenblocks würden Sie schätzen?»
«Ich weiß nicht … fünf?»
«Okay. Dann nehmen wir uns jetzt ein paar Stadtpläne vor und sehen, ob wir Ihr Verlies ausfindig machen können.»
Reilly wandte sich zum Gehen, doch Tess hielt ihn zurück. «Da ist noch etwas … wovon ich Ihnen noch nichts erzählt habe.»
«Allmählich sollte mich das wohl nicht mehr überraschen», versetzte er in vorwurfsvollem Ton. «Was ist es denn?»
Tess förderte aus ihrer Tasche die zusammengerollten Blätter zutage, die sie von Vance’ Schreibtisch genommen hatte, und breitete
sie vor Reilly aus. Auch sie selbst sah die Seiten nun zum ersten Mal bei Licht. Obwohl sie nicht illustriert waren, besaßen
sie eine eigentümliche Schönheit. Jedes einzelne Blatt war von einem Rand bis zum anderen mit einer lückenlosen Folge von
Buchstaben in makelloser Handschrift bedeckt. Es gab weder Wortzwischenräume noch Absätze.
Reilly nahm die Seiten mit verblüfftem Schweigen in Augenschein, dann sah er Tess fragend an. Sie grinste über das ganze dreckverschmierte
Gesicht. «Das habe ich von Vance», verkündete sie. «Das Templermanuskript aus dem Languedoc. Allerdings ist es kein Latein,
sondern, soweit ich sehe, völlig sinnloses Kauderwelsch. Darum braucht Vance die Chiffriermaschine. Diese Seiten sind der
Schlüssel zum Ganzen.»
Reillys Miene verdüsterte sich. «Aber ohne die Chiffriermaschine sind die Aufzeichnungen nutzlos.»
Mit einem triumphierenden Funkeln in den Augen versetzte Tess: «Schon, aber … umgekehrt ist die Chiffriermaschine ohne die Papiere ebenso nutzlos.»
Genüsslich beobachtete sie Reilly, der sprachlos war. Er musste elektrisiert sein, war aber sichtlich bemüht, es sich nicht
anmerken zu lassen, denn schließlich wollte er sie in ihrer Tollkühnheit nicht noch bestärken. Eine Weile lang starrte er
sie nur an, dann stieg er aus dem Wagen und rief einem seiner Kollegen zu, die Blätter sollten auf der Stelle fotografiert
werden. Augenblicke später eilte ein Beamter mit einer großen Kamera herbei, dem Reilly die Dokumente übergab.
Tess sah zu, wie der Fotograf die Blätter auf der Kofferraumklappe des Autos ausbreitete und sich an die Arbeit machte. Reilly
erkundigte sich inzwischen über Funk nach der Lage in den Tunneln. Die Hingabe und Gewissenhaftigkeit, mit der er sich seiner
Arbeit widmete, hatte etwas Anziehendes. Während er Unverständliches in das Funkgerät murmelte, wanderte sein Blick zu Tess
hinüber. Sie glaubte ein schwaches Lächeln zu erkennen.
«Ich muss da runter», teilte er ihr mit, nachdem er das Gespräch beendet hatte. «Die Kollegen haben Ihre beiden Freunde gefunden.»
«Was ist mit Vance?»
«Keine Spur von ihm.» Worüber Reilly offenbar alles andere als glücklich war. «Ich lasse Sie von einem Kollegen nach Hause
bringen.»
«Das eilt nicht», wehrte sie ab, obwohl sie in Wirklichkeit kaum etwas sehnlicher wünschte, als aus ihren dreckigen, nassen
Kleidern herauszukommen und stundenlang unter der Dusche zu stehen. Aber erst musste der Fotograf fertigsein. Noch dringender wollte sie nämlich die Dokumente studieren, mit denen das alles begonnen hatte.
Reilly ließ sie in seinem Wagen zurück und schloss sich einer Gruppe von Kollegen an. Nachdem sie kurz miteinander gesprochen
hatten, gingen sie gemeinsam auf die Treppe zu, die in die U-Bahn
Weitere Kostenlose Bücher