Scriptum
Abwasserkanal.
Unschlüssig, in welche Richtung sie laufen sollte, wandte sie sich aufs Geratewohl nach links. Nach wenigen Schritten bemerkte
sie einen Lichtschimmer. Einen gelben Schein, der sich bewegte.
Eine Kerze? Hier?
Zögernd ging sie darauf zu.
Das Licht erlosch.
Tess erstarrte. Gleich darauf begriff sie: Es war nicht erloschen, sondern jemand war zwischen die Lichtquelle und sie getreten.
Hinter ihr waren noch immer Geräusche zu hören. Folglich konnte die Person, die dort vor ihr stand, unmöglich Vance sein.
Oder doch? Vielleicht kannte er sich in diesen Gängen aus, immerhin hatte er den Keller als sein Zuhause bezeichnet. Tess
zwang sich weiterzugehen, und gleich daraufkonnte sie nur wenige Meter entfernt nicht eine, sondern zwei Gestalten ausmachen. Ob Männer oder Frauen, war nicht zu erkennen,
aber keine der beiden Personen ähnelte Vance. Allerdings war hier unten wohl von niemandem etwas Gutes zu erwarten.
«Hey, Baby», rief eine heisere Stimme. «Hast du dich verlaufen?»
Augenblicklich entschied Tess, dass Zögern nicht gut für ihre Gesundheit wäre. Sie beschleunigte ihre Schritte, obwohl sie
kaum sehen konnte, wohin sie trat.
«Scheint dein Glückstag zu sein, Mann», sagte eine andere, höhere Stimme.
Die beiden klangen nicht besonders freundlich.
Tess hastete weiter. Zugleich wurde das Geräusch hinter ihr lauter. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie war den beiden Gestalten
jetzt sehr nahe. In dem schwachen Kerzenlicht erkannte sie unordentlich aufeinander getürmte Pappkartons, etwas, das nach
Teppichrollen aussah, und Bündel von Lumpen.
Tess dachte fieberhaft nach. Als sie die beiden Männer fast erreicht hatte, fauchte sie: «Die Cops kommen.»
«Was zum Teufel wollen die hier?», grummelte der eine.
Als Tess sich vorbeidrängen wollte, griff er nach ihr und hielt sie am Mantel fest.
«Hey, komm schon, Puppe –»
Instinktiv wirbelte Tess herum und versetzte dem Mann einen Faustschlag an die Schläfe. Er schnappte erschrocken nach Luft
und taumelte rückwärts. Sein Kumpel machte Anstalten, ebenfalls sein Glück bei Tess zu versuchen, doch als er sah, wie ihre
Augen im gelben Licht funkelten, überlegte er es sich anders und wich zurück.
Tess kehrte den beiden Obdachlosen den Rücken und lief weiter, mittlerweile völlig erschöpft und außer Atem. Die Trostlosigkeit
dieser Unterwelt begann sie zu überwältigen.
Wenig später gabelte sich der Tunnel erneut. Diesmal entschied Tess sich willkürlich für den rechten Gang. Nachdem sie ein
paar Meter weitergestolpert war, bemerkte sie in der Wand eine Nische mit einem Gitter, das sich zur Seite schieben ließ.
Wieder führte eine windschiefe Leiter in die Tiefe. Noch weiter hinunter, dabei musste sie doch nach oben! Aber vor allem
musste sie Vance entkommen, und so beschloss sie, ihr Glück zu versuchen; vielleicht würde er ihr nicht folgen.
Der Tunnel, in den sie nun gelangte, war wiederum erheblich größer, trocken wie der vorige und besaß glatte, senkrechte Wände.
Doch es war so finster, dass sie sich mit einer Hand an der Wand langsam vorwärts tasten musste. Von Vance war nun nichts
mehr zu hören, weder Schritte noch Rufe. Erleichtert seufzte sie.
Großartig. Und jetzt?
Nach einer Ewigkeit, auch wenn in Wirklichkeit wohl kaum eine Minute verstrichen war, hörte sie hinter sich ein Geräusch.
Diesmal waren es keine Ratten, auch kein menschlicher Verfolger. Was sie hörte, war das Rattern eines Zuges.
Shit. Ich bin in der U-Bahn .
Ein schwacher Lichtschein flackerte über die Wände, dann wurden im Scheinwerferlicht die Gleise sichtbar. Tess rannte weiter,
wobei sie verzweifelt versuchte, die Stromschiene nicht zu berühren. Die Bahn holte rasch auf, das rhythmische Geratter hallte
von den Tunnelwänden wider. Als der Zug sie beinahe eingeholt hatte, erblickte sie im Licht der Scheinwerfer eine schmale
Nische in der Wand und schlüpfte hinein. Im selben Moment rauschte die Bahn vorbei, nur Zentimetervon ihr entfernt. Zitternd und mit wild pochendem Herzen wartete Tess ab, die Arme schützend vor das Gesicht gehoben, die
Augen fest zugekniffen. Selbst durch die geschlossenen Lider sah sie noch das Licht des vorbeirasenden Zuges. Heiße, staubige
Luft schlug ihr entgegen, drang ihr in Mund und Nase. Sie presste sich noch enger gegen die Wand. Wie betäubt von dem Lärm,
wartete sie mit geschlossenen Augen, bis die Lichterspur endlich vorbei war. Gleich darauf
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