Scriptum
den ein hartes Schicksal um den Verstand gebracht hatte. Sosehr es Tess auch drängte, Reilly einzuweihen,
sie konnte nicht riskieren, Vance damit zu einer echten Geiselnahme zu provozieren. Nicht angesichts seiner geistigen Verfassung.
Verzweifelt versuchte sie sich selbst davon zu überzeugen, dass er den beiden nichts antun würde. Sie hatte er schließlich
auch gut behandelt, er hatte sich geradezu für die Entführung entschuldigt. Doch jetzt war sie ihm in die Quere gekommen und
hatte die Dokumente an sich genommen, von denen seine Mission abhing. Die Dokumente, für die, wie Reilly so treffend bemerkt
hatte, Menschen gestorben waren.
Sie durfte es nicht riskieren. Ihre Familie schwebte in Gefahr.
Mit einem verstohlenen Blick stellte sie fest, dass der Fotograf gerade die letzte Manuskriptseite aufnahm. Das Handy noch
immer am Ohr, ging sie auf ihn zu. «Ja», sagte sie laut in die tote Leitung hinein. «Er ist gerade fertig mit den Aufnahmen.»Sie nickte dem Fotografen zu und rang sich ein Lächeln ab. «Sicher, ich bringe sie gleich vorbei», fuhr sie fort. «Bereiten
Sie schon mal alles für die Untersuchung vor.»
Sie klappte das Handy zu und wandte sich an den Fotografen. «Sind Sie sicher, dass die Aufnahmen gelungen sind?»
Er stutzte. «Das will ich hoffen. Schließlich werde ich dafür bezahlt.»
Als sie vortrat, um die Seiten einzusammeln, machte er ihr sofort Platz. «Ich muss das rasch ins Labor bringen.» Ein Labor
war immer im Spiel. Tess hoffte inständig, dass sie wenigstens halbwegs glaubhaft klang. Mit einem Blick auf die Kamera setzte
sie hinzu: «Reilly möchte die Aufnahmen schnellstmöglich entwickelt haben. Meinen Sie, das lässt sich machen?»
«Klar, kein Problem – sind ja schließlich Digitalfotos», versetzte der Fotograf trocken.
Tess bemühte sich, ihren Patzer zu überspielen. So selbstsicher, wie sie konnte, ging sie wieder zur Fahrertür von Reillys
Wagen. Am liebsten wäre sie gerannt, doch sie riss sich zusammen. Durch das Seitenfenster sah sie, dass der Schlüssel noch
steckte. Sie stieg ein und ließ den Motor an.
Weder Reilly noch sein Partner schienen in der Nähe zu sein. Sehr gut. Tess manövrierte das Auto aus seiner Parklücke in zweiter
Reihe und kurvte vorsichtig zwischen den anderen Limousinen und Streifenwagen hindurch. Dabei lächelte sie den Beamten, die
sie weiterwinkten, krampfhaft zu. Niemand durfte bemerken, dass sie in Wahrheit von schierem Entsetzen gepackt war.
Auf freier Straße angekommen, warf sie noch einen prüfenden Blick in den Rückspiegel, dann gab sie Gas und schlug den Weg
nach Westchester ein.
KAPITEL 40
Als Tess in die Auffahrt vor ihrem Haus einbiegen wollte, verschätzte sie sich und schrammte heftig über den Bordstein, ehe
sie mit einem Ruck zum Stehen kam.
Vor Angst gelähmt saß sie da und starrte auf ihre zitternden Hände. Ihr Atem ging flach und hastig. Sie zwang sich zur Ruhe.
Komm schon, Tess. Jetzt nicht durchdrehen.
Wenn es ihr gelang, die Nerven zu bewahren, konnten sie und Vance beide bekommen, was sie wollten.
Sie stieg aus dem Wagen. Plötzlich bereute sie, dass sie Reilly nicht eingeweiht hatte. Sie hätte auch dann noch herkommen
können, während er … was tat? Eine Einsatztruppe herbeiholte, Männer mit Gewehren und Megafonen, die das Haus umstellten und riefen: «Kommen
Sie mit erhobenen Händen heraus!»? Stunden angespannter Verhandlungen mit dem Geiselnehmer, ehe es zum unvermeidlichen und
– trotz sorgfältigster Planung – risikoreichen Sturm auf das Haus kam? Ihre Phantasie ging mit ihr durch. Tess versuchte,
sich auf die unmittelbare Realität zu konzentrieren. Vielleicht hatte sie doch die richtige Entscheidung getroffen.
Jetzt war es jedenfalls zu spät, es sich anders zu überlegen.
Auf dem Weg zur Haustür zögerte sie unwillkürlich. Sie konnte sich vorstellen, wie das Ganze abgelaufen war: Vance hatte geklingelt
und mit Eileen gesprochen. Ein paar Worteüber Oliver Chaykin, über Tess, und Eileen war bestimmt völlig entwaffnet, vermutlich sogar bezaubert gewesen.
Hätte sie nur Reilly Bescheid gesagt.
Tess steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und ging ins Wohnzimmer. Die Szene, die sich ihr dort bot, war geradezu
surreal: Vance saß neben ihrer Mutter auf dem Sofa, plauderte scheinbar unbeschwert und nippte an einer Tasse Tee. Aus dem
Obergeschoss ertönte Musik, Kim war also in ihrem Zimmer.
Als Eileen sah, in welchem
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