Scriptum
Tess zum Schluss ihres Berichtes kam, fiel De Angelis noch etwas auf: die Art, wie Reilly sie ansah. Interessant. Offenbar
betrachtete der FB I-Agent diese Frau nicht bloß als eine wichtige Zeugin; an sich wenig überraschend, was Reilly betraf, aber beruhte es auf Gegenseitigkeit?
Jedenfalls musste er sie scharf im Auge behalten.
Nachdem Tess geendet hatte, war Reilly an der Reihe. Er rief auf dem Notebook, das an den großen Bildschirm hinter dem Konferenztisch
angeschlossen war, eine Fotografie der Kirchenruine auf. «Das ist der Ort, an dem er Sie gefangen gehalten hat», erklärte
er an Tess gewandt. «Die Church of the Ascension.»
Tess stutzte. «Sie ist abgebrannt.»
«Ja, für den Wiederaufbau fehlt es noch an Spenden.»
«Der Geruch, die Feuchtigkeit … das alles passt, aber …» Sie schien völlig irritiert. «Er hat im Keller einer abgebrannten Kirche gehaust.» Das Bild, das sie vor sich sah, widersprach
völlig dem, was sie von Vance wusste. Verwirrt sah sie Reilly an. «Aber er hasste die Kirche.»
«Das hier war nicht bloß irgendeine Kirche. Sie ist vor fünf Jahren niedergebrannt. Die Experten konnten damals keine Hinweise
auf Brandstiftung finden, allerdings kam der Gemeindepriester in den Flammen ums Leben.»
Tess suchte in ihrem Gedächtnis nach dem Namen des Priesters, von dem Vance gesprochen hatte. «Pater McKay?»
«Genau.»
Reillys Blick verriet, dass er dieselbe Schlussfolgerung gezogen hatte wie sie.
«Der Priester, den Vance für den Tod seiner Frau verantwortlich machte.» Ihre Phantasie ging mit ihr durch und führte ihr
grauenhafte Bilder vor Augen.
«Der Zeitpunkt passt. Der Brand ereignete sich drei Wochen nach ihrem Begräbnis.» An Jansson gerichtet fuhr er fort: «Wir
müssen veranlassen, dass der Fall neu aufgerollt wird.»
Jansson nickte. Reilly wandte sich wieder Tess zu, die gedankenverloren vor sich hin starrte.
«Über was grübeln Sie?»
«Ich weiß nicht recht.» Sie schien wie aus einem Nebel aufzutauchen. «Es fällt mir schwer, Vance so widersprüchlich zu sehen:
einerseits als charmanten, gelehrten Professor und andererseits als das krasse Gegenteil – jemanden, der zu derartigen Gewalttaten
fähig ist …»
Aparo schaltete sich ein. «So etwas kommt leider gar nicht selten vor: der nette, ruhige Nachbar, der Leichenteile in der
Gefriertruhe versteckt. Diese Leute sind meist viel gefährlicher als die Typen, die jede Nacht in Bars randalieren.»
Reilly ergriff wieder das Wort. «Wir müssen herausfinden, wohinter er her ist oder zu sein glaubt. Tess, Sie waren die Erste,
die die Verbindung zwischen Vance und den Templerngezogen hat. Wenn Sie uns in Ihre bisherigen Erkenntnisse einweihen, können wir vielleicht erschließen, was sein nächster
Schritt sein wird.»
«Wo soll ich anfangen?»
Reilly zuckte die Schultern. «Am Anfang?»
«Es ist eine lange Geschichte.»
«Liefern Sie uns erst mal einen ganz groben Überblick. An interessanten Punkten gehen wir dann mehr ins Detail.»
Sie sammelte sich kurz, ehe sie begann.
Tess berichtete von den Ursprüngen des Templerordens. Von den neun Rittern, die in Jerusalem aufgetaucht waren; von ihrem
nicht recht erklärbaren Aufstieg zur Macht, ihren siegreichen Schlachten und davon, wie sie schließlich in Akkon vernichtend
geschlagen worden waren. Sie schilderte die Rückkehr der Templer nach Europa und den Untergang des Ordens.
«Mit der Unterstützung seiner Marionette, Papst Clemens’ V., beginnt der König eine gnadenlose Verfolgung, macht Jagd auf
die Templer, beschuldigt sie der Häresie. Binnen weniger Jahre sind sie ausgelöscht. Die meisten sterben einen grausamen Tod.»
Aparo unterbrach sie sichtlich verwirrt: «Moment mal – Häresie? Wie konnten sie denn solche Vorwürfe auf sich ziehen? Ich
dachte, die Jungs waren die Verteidiger des Kreuzes, die Auserwählten des Papstes.»
«Wir sprechen über eine Zeit, in der die Religion eine extrem wichtige Rolle spielte», erklärte Tess. «Eine Zeit, in der der
Teufel im Bewusstsein der Menschen sehr gegenwärtig war.» Sie legte eine Pause ein und schaute in die Runde. Als niemand etwas
sagte, fuhr sie fort. «Es wurden Behauptungenlaut, bei der Aufnahme in den Orden müssten die neuen Ritter auf das Kreuz spucken oder sogar urinieren und Jesus Christus
verleugnen. Und das war noch nicht alles. Sie wurden zudem beschuldigt, einen Dämon namens Baphomet zu verehren und Sodomie
zu treiben.
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