Scriptum
warf sie erneut einen Blick auf De Angelis. Sein Gesicht verriet noch
immer keinerlei Regung.
Dann ergriff er das Wort. «Wenn man einmal all die unterhaltsamen Spekulationen beiseite lässt», begann er miteinem etwas herablassenden Lächeln, «sagen Sie im Grunde, dass sich dieser Mann auf einem Rachefeldzug befindet. Auf einer
Art persönlichem Kreuzzug.»
«Ja.»
«Nun», fuhr De Angelis in der ruhigen, sachlichen Art eines College-Professors fort, «Geld, insbesondere in großen Summen,
kann ein phänomenales Werkzeug sein. Kreuzzüge, ob im zwölften Jahrhundert oder heute, kosten eine Menge Geld, nicht wahr?»
Er blickte in die Runde.
Tess erwiderte nichts.
Die Frage stand einen Moment lang im Raum. Dann schaltete sich Reilly ein. «Ich verstehe eines nicht: Wir wissen, dass Vance
den Priester und auch die Kirche für den Tod seiner Frau verantwortlich macht.»
«Und seiner Tochter», ergänzte Tess.
«Richtig. Nun hat er also dieses Manuskript an sich gebracht, von dem er behauptete, es sei so … erschreckend, dass ein Mönch auf der Stelle weiße Haare bekam, als er seinen Inhalt erfuhr. Und wir alle scheinen uns darüber
einig zu sein, dass dieses verschlüsselte Manuskript von den Templern stammt, oder?»
«Worauf wollen Sie hinaus?», warf Jansson ein.
«Ich dachte, die Templer und die Kirche standen auf derselben Seite. Soweit ich verstanden habe, waren die Jungs doch die
Verteidiger des Glaubens. Sie haben zwei Jahrhunderte lang im Namen des Christentums blutige Kriege geführt. Ich kann mir
ja vorstellen, dass ihre Nachfolger später nicht so gut auf die Kirche zu sprechen waren, aber die Theorien, von denen Sie
reden», er blickte Tess an, «drehen sich um etwas, das die Templer angeblich zweihundert Jahre
vor
der Verfolgung des Ordens entdeckt haben. Warum solltensie vom ersten Tag an etwas in ihrem Besitz gehabt haben, das der Kirche Kopfschmerzen bereitete?»
«Es könnte eine Erklärung dafür sein, dass sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden», schlug Amelia Gaines vor.
«Zweihundert Jahre später?», entgegnete Reilly skeptisch. «Und noch etwas: Diese Burschen haben das Kreuz erst verteidigt
und später angeblich entweiht – warum sollten sie das tun? Diese Geschichte mit den Initiationsritualen ergibt doch überhaupt
keinen Sinn.»
«Nun, das sind lediglich die Beschuldigungen, die gegen die Templer erhoben wurden», schränkte Tess ein. «Was nicht bedeutet,
dass sie tatsächlich etwas Derartiges getan haben. Es waren Standardanklagepunkte der damaligen Zeit. Der König hatte ganz
ähnliche Vorwürfe bereits wenige Jahre zuvor dazu benutzt, sich des vorigen Papstes, Bonifatius’ VIII., zu entledigen.»
«Okay, aber es ergibt dennoch keinen Sinn», beharrte Reilly. «Warum sollten sie all die Jahre für die Kirche kämpfen und zugleich
die ganze Zeit über ein Geheimnis bewahren, von dem der Papst nicht wollte, dass es an die Öffentlichkeit gelangte?»
De Angelis mischte sich in gewohnt mildem Tonfall in die Diskussion ein. «Wenn Sie gestatten … Ich denke, wenn Sie sich schon auf solche Höhenflüge der Phantasie einlassen, könnten Sie ebenso gut noch eine weitere Möglichkeit
in Betracht ziehen, die bislang nicht zur Sprache gekommen ist.»
Alle Augen richteten sich auf den Monsignore. Er schwieg einen Moment lang, um die Erwartung zu steigern, ehe er ruhig weitersprach.
«Diese ganze Theorie über mögliche Nachfahren unseresHerrn kommt alle paar Jahre mal wieder auf und erfreut sich jedes Mal neuen Interesses, ob nun im Bereich der Fiktion oder
in akademischen Gefilden. Der Heilige Gral, San Graal oder Sang Real, nennen Sie es, wie Sie wollen. Aber wie Miss Chaykin
so überzeugend dargelegt hat», bei diesen Worten nickte er Tess wohlwollend zu, «kann man vieles von dem, was den Templern
widerfahren ist, ganz einfach mit jenem niedersten aller menschlichen Wesenszüge erklären.» Hier wanderte sein Blick zu Aparo.
«Habgier. Nicht nur dass sie zu mächtig geworden waren. Nachdem sie nicht mehr ihrer ursprünglichen Aufgabe nachgehen konnten,
das Heilige Land zu verteidigen, waren sie nun wieder nach Europa zurückgekehrt, hauptsächlich nach Frankreich. Sie waren
bewaffnet, sie waren mächtig und sie waren sehr, sehr reich. Der König von Frankreich fühlte sich bedroht, zu Recht. Er war
praktisch bankrott und bei den Templern hoch verschuldet, und so war ihm jedes Mittel recht, das Vermögen des Ordens an
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