SdG 04 - Die eisige Zeit
geballt, dass das Blut aus ihnen wich. Mit weit aufgerissenen Augen starrte die Rhivi ihre Fäuste an, als wären es die Hände einer Fremden, knochig und tot, dort, am Ende ihrer dünnen Arme. »Oh Scharteke«, schluchzte sie leise, »sie hat mir mein Leben gestohlen …«
Der Große Rabe breitete die Flügel aus, neigte sich auf der Zeltstange nach vorn und ließ sich in einer sanften Kurve vor der Mhybe zu Boden sinken. »Du musst mit ihr reden.«
»Das kann ich nicht!«
»Sie muss verstehen – «
»Sie weiß es, Scharteke, sie weiß es. Was sollte ich deiner Meinung nach tun – meine Tochter bitten, dass sie aufhört zu wachsen? Dieser Fluss fließt unaufhörlich, unaufhörlich …«
»Flüsse können eingedämmt werden. Flüsse können … umgeleitet werden.«
»Dieser nicht, Scharteke.«
»Ich akzeptiere deine Worte nicht, meine Liebe. Und ich werde einen Weg finden. Das schwöre ich.«
»Es gibt keine Lösung – vergeude deine Zeit nicht mit so etwas, teure Freundin. Meine Jugend ist dahin, und ich kann sie nicht zurückbekommen, weder durch Alchemie noch durch Zauberei – Tellann ist ein unangreifbares Gewirr, Scharteke. Was es fordert, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Und selbst wenn es jemandem gelingen sollte, diese Flut zu stoppen – was dann? Willst du, dass ich jahrzehntelang als alte Frau weiterlebe? Jahr um Jahr, gefangen in diesem … Käfig? Das wäre kein Segen – es wäre ein Fluch, der kein Ende nimmt. Und jetzt lass mich einfach, bitte …«
Von hinten näherten sich Schritte. Einen Augenblick später beugte sich Korlat zur Mhybe hinunter, legte einen Arm um sie und hielt sie fest. »Komm«, murmelte die Tiste Andii. »Komm mit.«
Die Mhybe ließ sich von Korlat auf die Beine helfen. Sie schämte sich ihrer Schwäche, doch alles, was sie zur Verteidigung aufbieten konnte, war zusammengebrochen, und in ihrem Innern fühlte sie nichts als Hilflosigkeit. Ich war einst eine junge Frau. Was hat es für einen Sinn, über den Verlust zu wüten? Meine Zeit hat sich überschlagen, es ist vorbei. Und das Leben in meinem Innern vergeht, während das Leben außerhalb erblüht. Dies ist ein Kampf, den kein Sterblicher, keine Sterbliche gewinnen kann, aber wo, teure Geister, ist das Geschenk des Todes? Warum verwehrt ihr mir ein Ende?
Sie richtete sich in Korlats Armen ein wenig auf. Also gut. Da ihr meine Seele sowieso schon verflucht habt, kann es mir keinen größeren Schmerz bereiten, mir das Leben zu nehmen. Also gut, liebe Geister, ich werde euch meine Antwort geben. Ich werde mich euren Plänen widersetzen. »Bring mich zu meinem Zelt«, sagte sie.
»Nein«, erwiderte Korlat.
Die Mhybe drehte sich um, starrte die Tiste Andii böse an. »Ich habe gesagt – «
»Ich habe gehört, was du gesagt hast, Mhybe. Ich habe sogar mehr gehört, als du mich hören lassen wolltest. Die Antwort lautet nein. Ich werde an deiner Seite bleiben, und ich bin nicht die Einzige, die an dich glaubt – «
Die Rhivi schnaubte. »Glaubt? Du bist eine Tiste Andii! Hältst du mich für eine Närrin, dass du von deinem Glauben sprichst?«
Korlats Gesichtsausdruck wurde zu einer Maske, und sie schaute weg. »Vielleicht hast du Recht.«
Oh Korlat, es tut mir Leid – ich würde es zurücknehmen, das schwöre ich …
»Aber unabhängig davon«, fuhr die Tiste Andii fort, »werde ich dich nicht deiner Verzweiflung überlassen.«
»Ich bin es gewohnt, eine Gefangene zu sein«, sagte die Mhybe, schon wieder ärgerlich. »Aber ich warne dich, Korlat – ich warne euch alle: Hass fällt bei mir auf fruchtbaren Boden. Und mit deinem Mitleid, mit deinen guten Absichten, nährst du ihn nur noch weiter. Ich bitte dich, lass mich all dem ein Ende machen.«
»Nein, und du unterschätzt unsere Widerstandskraft, Mhybe. Es wird dir nicht gelingen, uns abzuweisen.«
»Dann werdet ihr mich tatsächlich in den Hass treiben, und der Preis wird alles sein, was mir lieb und teuer ist, alles, was du einst an mir geschätzt hast.«
»Du würdest zulassen, dass all unsere Anstrengungen umsonst waren?«
»Nicht, wenn ich die Wahl treffen kann, Korlat – und das versuche ich dir die ganze Zeit zu erklären –, aber ich kann keine Wahl mehr treffen. Das wurde mir aus der Hand genommen. Von meiner Tochter – und jetzt von dir. Du wirst aus mir ein Wesen voller Boshaftigkeit machen, und daher bitte ich dich noch einmal: Wenn du mich wirklich gern hast, lass mich diese schreckliche Reise beenden.«
»Ich werde dir nicht
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