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SdG 04 - Die eisige Zeit

SdG 04 - Die eisige Zeit

Titel: SdG 04 - Die eisige Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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Ehre.
     
    Tanzer
     
    D
    ie Knochen bildeten Hügel, erstreckten sich nach allen Seiten. Sie klapperten, verrutschten unter Gethol, als der Jaghut sich abmühte, an dem Hang Halt zu finden. Sein zerstörtes Gesicht hatte aufgehört zu bluten, doch mit dem einen Auge konnte er noch immer nicht wieder richtig sehen – schuld daran war ein hoch stehender, rosaweiß glänzender Knochensplitter –, und der Schmerz war zu einem pulsierenden Pochen verebbt.
    »Eitelkeit«, murmelte er mit verschorften Lippen, »ist ganz sicher nicht mein Fluch.« Er fand sein Gleichgewicht wieder, richtete sich auf, schwankte auf dem Hügelhang. »Es ist Unmöglich, die Handlungen sterblicher Menschen vorauszusagen – noch nicht einmal der Vermummte hätte eine solche … Überheblichkeit vorhersehen können. Doch was soll’s! Das Gesicht des Herolds ist nun zerschmettert, und das, was zerschmettert ist, muss weggeworfen werden. Weggeworfen …«
    Gethol schaute sich um. Die endlosen Hügel, der formlose Himmel, die kalte, tote Luft. Die Knochen. Der Jaghut zog die unversehrte Braue hoch. »Nichtsdestotrotz weiß ich den Scherz zu würdigen, Vermummter. Haha. Hier hast du mich hingeworfen. Haha. Und jetzt habe ich die Erlaubnis, in die Freiheit zu kriechen. Deinen Dienst zu verlassen. So sei es denn.«
    Der Jaghut öffnete sein Gewirr und starrte in das Portal, das sich vor ihm formte, seine Pforte in die kalte, fast luftlose Sphäre von Omtose Phellack. »Jetzt kenne ich dich, Vermummter. Ich weiß jetzt, wer – oder was – du bist. Köstliche Ironie, der Spiegel deines Gesichts. Doch jetzt frage ich mich – weißt du eigentlich, wer ich bin?«
    Er schritt in das Gewirr hinein. Die vertraute eisige Umarmung linderte seinen Schmerz, das Feuer, das in seinen Nerven brannte. Die steilen, zerklüfteten Mauern aus Eis zu beiden Seiten badeten ihn in blaugrünem Licht. Er blieb stehen, sog prüfend die Luft ein. Kein Imass-Gestank, keine Anzeichen, dass sie in dieses Gewirr eingedrungen waren, und doch war die Macht, die er um sich herum spürte, geschwächt, war beschädigt durch jahrtausendelange Angriffe, durch die Unverschämtheit der T’lan. Wie die Jaghut selbst, so starb auch Omtose Phellack. Es war ein langsamer, zehrender Tod.
    »Ach, mein Freund«, flüsterte er, »wir sind fast am Ende. Du und ich, wir bewegen uns auf einer Spirale, die abwärts führt … auf das Vergessen zu. So einfach ist das. Soll ich meinem Zorn freien Lauf lassen? Nein. Schließlich ist mein Zorn nicht genug. Er war nie genug.«
    Er ging weiter, durch die gefrorenen Erinnerungen, die zu faulen begonnen hatten, die sich hier, in seiner Reichweite, immer mehr verengten, den Jaghut immer mehr bedrängten.
    Der Riss tat sich unerwartet vor ihm auf, eine tiefe Spalte, die diagonal über seinen Pfad verlief. Eine sanfte, warme Brise wehte herein, die süß nach Verfall und Leid roch. Das Eis an den Rändern der Spalte war fleckig und pockennarbig und von dunklen Adern durchzogen. Gethol blieb stehen und setzte all seine Sinne ein. Er stieß ein Zischen aus, als er erkannte, was die Spalte bedeutete. »Du warst alles andere als untätig, was? Was soll die Einladung, die du mir hier zu Füßen legst? Ich bin von dieser Welt, Fremder – ganz im Gegensatz zu dir.«
    Er schickte sich an, über die Spalte hinwegzutreten, die aufgeplatzten Lippen zu einem höhnischen Grinsen verzogen. Dann blieb er stehen, drehte langsam den Kopf. »Ich bin nicht mehr der Herold des Vermummten«, flüsterte er. »Ich bin entlassen. Ungenügende Dienste. Das ist nicht akzeptierbar. Was willst du mir sagen, Angeketteter?«
    Er würde erst dann eine Antwort erhalten, wenn er eine Entscheidung getroffen hatte, wenn er am Ende der Reise angelangt war. Gethol trat in den Riss.
     
    Der Verkrüppelte Gott hatte um die Stelle herum, an der er angekettet worden war, ein kleines Zelt geschaffen, wie der Jaghut mit einiger Erheiterung feststellte. Gebrochen, zerschmettert, aus Wunden blutend, die niemals heilten, sah er hier also das wahre Gesicht der Eitelkeit.
    Gethol blieb vor dem Eingang stehen.
    Er hob die Stimme. »Verzichte auf die Umhüllung – ich werde nicht zu dir kriechen.«
    Das Zelt schimmerte und verschwand, gab den Blick frei auf eine formlose, in ein langes Kapuzengewand gekleidete Gestalt, die auf feuchtem Lehm saß. Aus einer Kohlenpfanne vor der Gestalt stiegen Rauchschwaden auf, und eine verstümmelte Hand streckte sich aus, um die süßen Schwaden in das im Schatten

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