SdG 04 - Die eisige Zeit
die verschlungenen Wege eurer Gedanken sehr richtig vorausgeahnt. Wenn es denn sein muss, werden wir uns mit unserem Verlust abfinden. Allerdings werden mein Bruder und ich, bevor wir heute gehen, alle töten, die sich hier in diesem Zimmer aufhalten, solltet ihr beschließen, unsere Forderung abzulehnen. Könnt ihr euch mit eurem Verlust abfinden?«
Längere Zeit sagte niemand ein Wort, dann hüstelte Rath’Königin der Träume erneut. »Hetan, darf ich dir eine Frage stellen?«
Die graugesichtige Barghast nickte.
»Wie wollt ihr die … wie wollt ihr das, was ihr sucht, von hier wegbringen?«
»Welches Geheimnis enthaltet Ihr uns vor?«, kreischte Rath’Oponn. »Ihr und Rath’Vermummter und Rath’Brand! Wovon redet Ihr alle die ganze Zeit? Wir Übrigen müssen es wissen!«
»Benutzt das Maiskorn, das Ihr Euer Gehirn nennt«, schnaubte Rath’Schattenthron höhnisch. »Was würdigen und ehren Pilger normalerweise?«
»Äh … Relikte? Ikonen?«
Rath’Schattenthron ahmte das geduldige, gönnerhafte Lächeln eines Lehrers nach. »Sehr gut, Bruder. Wie kann man diese Pilgerfahrten also zu einem Ende bringen?«
Rath’Oponn starrte ihn an; auf seiner Maske lag ein verständnisloser Ausdruck.
»Man schafft die Relikte woanders hin, Ihr Idiot!«, schrie Rath’Schattenthron.
»Einen Moment!«, wandte Rath’Beru ein. »Setzt das nicht voraus, das man weiß, wo sie sich befinden? Wurden die Grabhügel nicht alle eingeebnet? Beim Abgrund, in wie vielen Häusern und Trutzen steht nicht eine zerkratzte Barghast-Urne irgendwo auf einem Regal? Sollen wir etwa losziehen und jedes Haus in der Stadt durchsuchen?«
»Gefäße sind uns gleichgültig«, grollte Hetan.
»Genau das ist das Geheimnis!«, pflichtete Rath’Schattenthron Rath’Beru bei und wiegte nachdenklich den Kopf. »Unsere beiden Schwestern und unser Bruder wissen, wo die Knochen liegen!« Er blickte Rath’Königin der Träume an. »Ist es nicht so, meine Liebe? Irgendein Narr oder Weiser hat sie vor all diesen Jahrhunderten gesammelt und an einen Ort gebracht – und diesen Ort gibt es noch immer, nicht wahr? Bringt diese Ekel erregende Sprödigkeit zu Bett und legt die Tatsachen auf den Tisch, Frau!«
»Was seid Ihr grob«, zischte die Priesterin.
Itkovian hörte dem Gezänk nicht mehr länger zu. Sein Blick war wie gebannt auf Hetan gerichtet. Er wünschte sich, er könnte ihre Augen sehen, und wenn auch nur, um seine Vermutung bestätigt zu sehen.
Sie zitterte. So schwach, dass der Schild-Amboss bezweifelte, dass es außer ihm jemand wahrnahm. Sie zitterte ... und ich glaube, ich weiß, warum.
Er bemerkte aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Karnadas zog sich zurück, kam wieder auf Brukhalian zu. Der Blick des Destriant schien auf die Brüder und Schwestern des Rates gerichtet, besonders auf die stumme, schlanke Gestalt von Rath'Fener, die ganz außen rechts saß. Die Art, wie Karnadas Rücken und Schultern anspannte - und dass er es bewusst vermied, sich auf Hetan zu konzentrieren -, sagte Itkovian, dass der Destriant zu der gleichen Erkenntnis gekommen war wie er selbst - eine Erkenntnis, die das Herz des Schild-Amboss wild hämmern ließ.
Die Grauen Schwerter hatten hiermit nichts zu tun. Eigentlich waren sie neutrale Beobachter, doch Itkovian konnte nicht anders, als Hetans Anliegen mit seiner ganzen Willenskraft zu unterstützen.
Der Destriant zog sich endgültig an Brukhalians Seite zurück, schaute beiläufig zu Itkovian herüber. Ihre Blicke trafen sich.
Der Schild-Amboss antwortete mit der Andeutung eines Nickens.
Karnadas' Augen wurden groß, dann seufzte er.
Ja. Die ersten Worte der Barghast. Generationen von Pilgern ... lange bevor die Capan und die Daru in dieses Land gekommen waren, lange bevor diese Siedlung gegründet wurde. Normalerweise ehren die Barghast ihre Toten nicht auf diese Weise. Nein, bei den Knochen, die hier irgendwo verborgen sind, handelt es sich nicht einfach um die Knochen eines toten Kriegshäuptlings oder Schultermannes. Diese Knochen stammen von jemandem, der... überaus wichtig gewesen sein muss. Jemand, der so hoch geschätzt wurde, dass seine Söhne und Töchter zahllose Generationen lang zu seiner legendären Ruhestätte gereist sind. Dies ist eine bedeutende Erkenntnis ... die uns sofort zur nächsten führt.
Hetan zittert. Die Geister der Barghast... zittern. Sie waren verloren - waren geblendet von der Entweihung. So lange Zeit... verloren. Diese heiligsten aller Überreste … und die
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