Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
SdG 05 - Der Tag des Sehers

SdG 05 - Der Tag des Sehers

Titel: SdG 05 - Der Tag des Sehers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Erikson
Vom Netzwerk:
weggegeben. Irgendwohin. Sie hätte es nicht ausgesetzt, denn irgendwann würde sie es benutzen wollen, als nachweisbaren Erben, als Heiratsköder, als was weiß ich. Simtal war von niedriger Geburt; welche Kontakte sie auch immer aus ihrer Vergangenheit hatte, es waren private Kontakte – von allen fern gehalten, außer jenen, die damit direkt zu tun hatten – auch von dir, wie du wohl weißt. Ich nehme an, sie hat das Kind irgendwo dorthin geschickt, irgendwohin, wo niemand nach ihm suchen würde.«
    »Es muss jetzt fast drei sein«, sagte Coll, während er sich langsam zurücklehnte und den Kopf gegen die Wand sinken ließ. Er schloss die Augen. »Fast drei Jahre alt …«
    »Vielleicht. Aber damals gab es keine Möglichkeit, herauszufinden, wo – «
    »Ihr hättet nur mein Blut gebraucht. Dann hätte Baruk – «
    »Richtig«, schnappte Murillio. »Wir hätten einfach hingehen und dir ein bisschen Blut abzapfen müssen, wenn du gerade mal wieder sinnlos betrunken warst.«
    »Warum nicht?«
    »Weil das damals nicht allzu viel Sinn gehabt hätte, du Ochse!«
    »In Ordnung. Aber ich habe mich jetzt schon seit einigen Monaten zusammengerissen, Murillio.«
    »Dann tu es, Coll. Geh zu Baruk.«
    »Das mache ich auch. Jetzt, wo ich es weiß.«
    »Hör zu, mein Freund. Mir sind im Laufe meines Lebens schon etliche Trinker begegnet. Du schaust dir deine vier, fünf Monate an, in denen du trocken warst, und du glaubst, das ist die Ewigkeit. Aber ich, ich sehe immer noch einen Mann, der versucht, sich die Kotze von den Kleidern zu wischen. Einen Mann, den es immer noch sofort wieder umhauen könnte. Ich hätte dich nicht gedrängt – es ist zu früh – «
    »Ich verstehe. Ich verfluche deine Entscheidung nicht, Murillio. Du hattest Recht, vorsichtig zu sein. Aber was ich sehen kann – was ich jetzt sehen kann –, das ist ein Grund. Das ist endlich ein richtiger Grund, mich zusammenzureißen.«
    »Coll, ich hoffe, du denkst jetzt nicht, du könntest einfach in den Haushalt marschieren, in dem dein Kind aufgezogen wird – egal, wo es ist, oder was es ist –, und es dort wegholen – «
    »Warum nicht? Schließlich ist es mein Kind.«
    »Ach ja, und auf deinem Kaminsims ist schon ein Platz dafür bereit, ja?«
    »Glaubst du etwa, ich kann kein Kind großziehen?«
    »Ich weiß, dass du es nicht kannst, Coll. Aber wenn du das Ganze richtig angehen willst, dann kannst du dafür bezahlen und dadurch dafür sorgen, dass es vernünftig aufgezogen wird, dass ihm Möglichkeiten offen stehen, die es sonst nicht hätte.«
    »Ein verborgener Wohltäter. Hah. Das wäre … großmütig.«
    »Sei ehrlich, Coll: Es wäre praktisch. Nicht großmütig, nicht heldenhaft.«
    »Und du nennst dich meinen Freund.«
    »Ja, das tue ich.«
    Coll seufzte. »Das solltest du auch, obwohl ich keine Ahnung habe, was ich getan habe, um eine solche Freundschaft zu verdienen.«
    »Da ich dich nicht noch mehr deprimieren will, werden wir uns über diese Frage ein andermal unterhalten.«
    Die mächtigen Steintüren der Grabkammer schwangen auf.
    Ächzend erhob Coll sich von der Steinbank.
    Der Ritter des Todes trat auf den Korridor hinaus und baute sich direkt vor Murillio auf. »Bringt die Frau«, sagte er. »Die Vorbereitungen sind abgeschlossen.«
    Coll trat an den Eingang und blickte hinein. In der Mitte des Zimmers war ein großes Loch in den massiven Steinfußboden geschlagen worden. Zerschmetterte Steine türmten sich an einer Wand zu einem hohen Haufen. Den Daru überlief plötzlich ein kalter Schauer; er schob sich an dem Ritter des Todes vorbei. »Beim Atem des Vermummten!«, rief er. »Das ist ein verdammter Sarkophag!«
    »Was?«, rief Murillio und eilte an Colls Seite. Er starrte die Grube an, dann wirbelte er zu dem Ritter herum. »Die Mhybe ist noch nicht tot, du verdammter Narr!«
    Die leblosen Augen des Kriegers hefteten sich auf Colls Freund. »Die Vorbereitungen«, wiederholte er, »sind abgeschlossen.«
     
    Knöcheltief im Staub stolperte sie durch das Ödland. Die Tundra war verschwunden und mit ihr die Jäger, die dämonischen Verfolger, die ihr so lange unwillkommene Gesellschaft geleistet hatten. Die Verwüstung, die sie nun umgab, war noch weitaus schlimmer, wie ihr allmählich klar wurde. Kein Gras unter ihren Füßen, kein süßer, kühler Wind. Das Summen der Schwarzfliegen war verstummt, jener leidenschaftlichen Gefährten, die so gierig darauf versessen gewesen waren, sich von ihrem Fleisch zu nähren – obwohl ihre Haut

Weitere Kostenlose Bücher