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SdG 05 - Der Tag des Sehers

SdG 05 - Der Tag des Sehers

Titel: SdG 05 - Der Tag des Sehers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Erikson
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bezeichnet, doch die Welt hatte die Angewohnheit, sich irgendwie unbemerkt umzudrehen, bis er sich schließlich dem, dem er den Rücken gekehrt zu haben glaubte, wieder gegenübersah. Was noch schlimmer war, Innenschau war – zumindest für ihn – wie ein Trichter im Sand, an dessen Grund eine Spinne wartete. Und Coll wusste nur zu gut, dass er sehr wohl fähig war, sich selbst zu verzehren.
    Murillio kam wieder in sein Blickfeld.
    »Die Ameise hat blind getanzt«, sagte Coll.
    »Was?«
    »Das alte Kindermärchen – erinnerst du dich daran?«
    »Du hast den Verstand verloren, stimmt’s?«
    »Noch nicht. Zumindest glaube ich es nicht.«
    »Aber das ist es doch gerade. Du würdest es doch gar nicht wissen, oder?«
    Er sah zu, wie Murillio sich abermals umdrehte und hinter der nächsten Ecke verschwand. Die Welt dreht sich ungesehen um uns. Die Blinden tanzen im Kreis. Man kann dem, was man ist, nicht entfliehen, und alle Träume glitzern des Nachts weiß, jedoch grau im Licht des Tages. Und beide sind gleichermaßen tödlich. Wer war noch mal der verdammte Dichter? Der Rachsüchtige. Ein Waise, hat er behauptet. Hat tausend Geschichten geschrieben, mit denen man Kinder erschrecken konnte. Wurde von einem Mob in Darujhistan gesteinigt, was er überlebt hat. Ich glaube – das war vor vielen Jahren. Seine Geschichten leben jetzt auf den Straßen. Als Singsang, der die Spiele der Kinder begleitet.
    Verdammt unheimlich, wenn ihr mich fragt.
    Er schüttelte sich, versuchte, den Kopf klarzukriegen, bevor er in eine andere Fallgrube der Erinnerung stolperte. Bevor sie ihm sein Anwesen gestohlen, bevor sie ihn vernichtet hatte, hatte Simtal ihm erzählt, sie trüge sein Kind unter dem Herzen. Er fragte sich, ob es dieses Kind jemals gegeben hatte – Simtal kämpfte mit Lügen, wo andere Messer gebrauchten. Es war nie eine Geburt verkündet worden. Obwohl es natürlich durchaus möglich war, dass er eine solche Verkündung gar nicht mitbekommen hätte, in den Tagen, die seinem Fall gefolgt waren. Aber seine Freunde hätten es gewusst. Hätten es ihm gesagt, wenn nicht damals, dann jetzt …
    Murillio kam wieder in sein Blickfeld.
    »Einen Augenblick«, grollte Coll.
    »Was ist jetzt? Liegt der Käfer auf dem Rücken? Umkreist der Wurm das Loch?«
    »Eine Frage, Murillio.«
    »In Ordnung, wenn du darauf bestehst.«
    »Hast du jemals etwas davon gehört, dass Simtal ein Kind geboren hat?«
    Er sah, wie das Gesicht seines Freundes sich verschloss, seine Augen schmal wurden. »Das ist eine Frage, die nicht in diesem Tempel gestellt werden sollte, Coll.«
    »Ich stelle sie aber trotzdem.«
    »Ich glaube nicht, dass du dafür bereit bist – «
    »Das hast du nicht zu beurteilen, und du solltest es eigentlich besser wissen, Murillio. Verdammt, ich habe monatelang in der Ratsversammlung gesessen! Und ich soll immer noch nicht bereit sein? Was für eine absurde Idee – «
    »Schon gut, schon gut! Es ist nur so: Es gibt nur Gerüchte.«
    »Lüg mich nicht an.«
    »Ich lüge nicht. Es gab eine Zeitspanne von mehreren Monaten – gleich nach deinem … äh … Untertauchen –, in der sie sich nicht in der Öffentlichkeit gezeigt hat. Es wurde immer damit erklärt, dass sie trauert, aber jeder hat gewusst – «
    »Ja, ich weiß, was jeder gewusst hat. Also hat sie sich ein Zeit lang nirgends blicken lassen. Weiter.«
    »Nun, wir haben geglaubt, sie wäre damit beschäftigt, ihre Position zu festigen. Hinter den Kulissen. Rallick hat sie im Auge behalten. Zumindest glaube ich das. Er würde mehr wissen.«
    »Und ihr beide habt euch niemals über Einzelheiten unterhalten – was sie vorhaben könnte, wie sie ausgesehen hat? Murillio – «
    »Nun, was wusste Rallick schon von Mutterschaft?«
    »Wenn sie schwanger sind, schwillt ihr Bauch an, und ihre Brüste werden größer. Ich bin mir sicher, dein Freund, der Assassine, hat ein oder zwei Frauen in einem solchen Zustand in den Straßen von Darujhistan gesehen – hat er da einfach nur gedacht, sie hätten Melonen in einem Stück gegessen?«
    »Es besteht überhaupt kein Anlass, sarkastisch zu werden, Coll. Alles, was ich sage, ist, er war sich nicht sicher.«
    »Und was ist mit den Dienern und Dienerinnen auf dem Anwesen? Irgendwelche Frauen, die gerade ein Kind geboren hatten?«
    »Rallick hat niemals etwas erwähnt – «
    »Du meine Güte, was für ein guter Beobachter, dieser Assassine!«
    »Toll!«, schnappte Murillio. »Hier ist, was ich glaube: Sie hatte ein Kind. Sie hat es

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