SdG 05 - Der Tag des Sehers
noch immer kribbelte, als hätten ein paar davon die Verwüstung überlebt.
Und sie wurde schwächer, ihre jugendlichen Muskeln ließen sie auf undefinierbare Weise im Stich. Es war nicht einfach nur Müdigkeit, eher eine Art chronischer Auflösung. Sie verlor ihre Stofflichkeit, und diese Erkenntnis war die schrecklichste von allen.
Der Himmel über ihr war farblos, ohne Wolken oder Sonne, aber dennoch von einer unsichtbaren Lichtquelle schwach erleuchtet. Er schien unglaublich weit entfernt – zu lange nach oben zu starren hieß Wahnsinn riskieren, wenn der Verstand angesichts seiner Unfähigkeit zu verstehen, was die Augen sahen, zu toben begann.
Darum blickte sie starr geradeaus, als sie weitertaumelte. Es gab nichts, was den Horizont in irgendeiner Richtung unterbrochen hätte. Nach allem, was sie wusste, war es auch sehr gut möglich, dass sie im Kreis lief, doch wenn dem so war, musste es ein großer Kreis sein, denn bisher war sie noch nicht wieder auf ihre eigenen Spuren gestoßen. Sie hatte kein Ziel im Sinn für diese Reise des Geistes, genauso wenig wie den Willen, sich in dieser tödlichen Traumlandschaft eins zu setzen, hätte sie gewusst, wie.
Ihre Lungen schmerzten, als versagten auch sie ihr den Dienst. In nicht allzu langer Zeit, so glaubte sie, würde sie beginnen, sich aufzulösen, würde dieser junge Körper auf eine Art und Weise besiegt werden, die genau das Gegenteil von dem war, was sie so lange gefürchtet hatte. Sie würde nicht von Wölfen in Stücke gerissen werden. Die Wölfe waren fort. Nein, sie wusste jetzt, dass nichts so gewesen war, wie es den Anschein gehabt hatte – es war alles etwas anderes gewesen, etwas Geheimnisvolles, ein Rätsel, das sie noch lösen musste. Und nun war es zu spät. Die Vergessenheit war gekommen, um sie zu holen.
Der Abgrund, den sie in ihren Albträumen vor so langer Zeit gesehen hatte, war ein Ort des Chaos gewesen, wo mit rasender Gier an Seelen gefressen wurde, wo ansteckende Erinnerungen losgerissen und in Sturmwinde geschleudert wurden. Vielleicht waren diese Visionen letzten Endes nichts anderes gewesen als Erzeugnisse ihres eigenen Verstandes. Der wahre Abgrund war das, was sie nun sah, auf allen Seiten, in jeder Richtung -
Etwas unterbrach die flache Linie des Horizonts, etwas Monströses, Hingeducktes, Tierisches, dort, zu ihrer Rechten. Eben war es noch nicht da gewesen.
Oder vielleicht doch. Vielleicht schrumpfte diese ganze Welt, und ihre wenigen, zitternden Schritte hatten enthüllt, was hinter der Krümmung des Horizonts verborgen gewesen war.
Sie stöhnte in plötzlichem Entsetzen auf, während ihre Schritte schon die Richtung änderten, sie näher an die Erscheinung herantrugen.
Sie wurde mit jedem Schritt, den sie machte, sichtlich größer, schwoll auf entsetzliche Weise an, bis sie ein Drittel des Himmels bedeckte. Rosa gestreift, rohe Knochen, aufwärts ragend, ein Brustkorb, jede Rippe zerkerbt, schief zusammengewachsen und von Kalkablagerungen, porösen Knoten, Rissen, Knicken und Spalten überzogen. Zwischen den einzelnen Knochen spannte sich Haut, umschloss das, was im Innern liegen mochte. Adern zogen sich über die Haut, pulsierten wie rote Blitze, pochten vor ihren Augen stärker und schwächer.
Für das hier ging der Sturm des Lebens vorbei. Für das hier und genauso für sie.
»Bist du mein?«, fragte sie mit krächzender Stimme, als sie bis auf zwanzig Schritt an den gespenstischen Käfig herangetaumelt war. »Liegt mein Herz in deinem Innern? Wird es mit jedem Schlag langsamer? Bist du ich?«
Gefühle schlugen plötzlich über ihr zusammen – Gefühle, die nicht die ihren waren, sondern die von dem kamen, was auch immer sich im Innern des Käfigs befand. Angst. Überwältigende Schmerzen.
Sie wollte fliehen.
Doch es spürte sie. Es verlangte, dass sie blieb.
Dass sie näher kam.
Nahe genug, um einen Arm auszustrecken.
Es zu berühren.
Die Mhybe schrie. Sie lag plötzlich auf den Knien in einer Staubwolke, die ihre Augen blind machte; ihr war, als würde sie auseinander gerissen – ihr Geist, all ihre Überlebensinstinkte bäumten sich ein letztes Mal auf. Um den Beschwörungen zu widerstehen. Um zu fliehen.
Doch sie konnte sich nicht bewegen.
Und dann griff die Macht nach ihr. Begann zu ziehen.
Und das Land unter ihr bewegte sich, neigte sich. Der Staub wurde glatter. Der Staub wurde wie Glas.
Sie kauerte auf Händen und Knien, blickte auf, mit tränenden Augen, vor denen alles tanzte.
Die Rippen
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