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SdG 05 - Der Tag des Sehers

SdG 05 - Der Tag des Sehers

Titel: SdG 05 - Der Tag des Sehers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Erikson
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sie bei Bruths Armee geblieben war. Sie würde diese Verantwortung nicht lange übernehmen, denn sie hatte nicht den Wunsch, über ihre Artgenossen zu herrschen. Sie würde sie über ihr Schicksal frei entscheiden lassen.
    Anomander Rake hatte diese Tiste Andii durch die Stärke seiner Persönlichkeit vereinigt – eine Eigenschaft, von der Korlat wohl wusste, dass sie sie nicht besaß. Die grundverschiedenen guten Sachen, die mit seinem Volk zu unterstützen er sich entschlossen hatte, waren, wie sie immer angenommen hatte, jeweils eine Reflexion eines einzigen Themas – dieses Thema und seine Natur jedoch hatte Korlat nie erfassen können. Die Kriege, Kämpfe, Verbündeten, Siege und Verluste. Eine jahrhundertelange Prozession, die nicht nur ihr, sondern ihrem ganzen Volk willkürlich erschienen war.
    Plötzlich kam ihr ein Gedanke, drehte sich wie ein stumpfes Messer in ihrer Brust. Vielleicht war Anomander Rake genauso hilflos. Vielleicht spiegelt diese endlose Abfolge von guten Sachen nur seine eigene Suche wider. Ich habe die ganze Zeit ein einfaches Ziel unterstellt – uns einen Grund zu existieren zu geben, die Würde anderer auf uns zu nehmen … andere, für die der Kampf etwas bedeutete. War das nicht das unterschwellige Thema von allem, was wir getan haben? Warum zweifle ich jetzt? Warum glaube ich jetzt, dass das Thema – wenn es denn tatsächlich existiert – ein ganz anderes ist?
    Etwas weit weniger Edles …
    Sie versuchte, diese Gedanken abzuschütteln, bevor sie sie in die Verzweiflung hinabzogen. Denn Verzweiflung ist die Nemesis der Tiste Andii. Wie oft habe ich meine Verwandten auf dem Schlachtfeld sterben sehen und tief in meiner Seele gewusst, dass meine Brüder und Schwestern nicht gestorben sind, weil sie sich nicht selbst verteidigen konnten? Sie sind gestorben, weil sie sich dafür entschieden hatten zu sterben. Dahingerafft von ihrer eigenen Verzweiflung.
    Unsere schwerwiegendste Bedrohung.
    Führt Anomander Rake uns von der Verzweiflung fort – ist das sein einziger Antrieb, sein einziges Ziel? Ist sein Thema eines der Verweigerung? Wenn dem so ist, dann, liebe Mutter Dunkel, hat er recht daran getan zu versuchen, unser Verständnis zu verwirren, zu verhindern, dass wir sein einziges, armseliges Ziel jemals erkennen. Und ich – ich hätte diese Gedanken niemals verfolgen sollen, ich hätte mich niemals zu diesem Schluss durchringen sollen.
    Dafür, das Geheimnis meines Lords zu entdecken, gibt es keine Belohnung. Fluch des Lichts, er hat Jahrhunderte damit zugebracht, meinen Fragen auszuweichen, meinen Wunsch abzuwehren, ihn besser kennen zu lernen, seinen Schleier des Geheimnisses zu durchdringen. Und es hat mich verletzt, ich bin mehr als einmal auf ihn losgegangen, und er hat vor meiner Wut und Enttäuschung gestanden. Stumm.
    Zu beschließen, nichts zu teilen … was ich für Arroganz gehalten habe, für gönnerhaftes Verhalten der schlimmsten Sorte – genug, um mich zu erzürnen … oh, Lord, du hast dich für die härteste Form der Barmherzigkeit entschieden.
    Und wenn die Verzweiflung über uns hereinbricht, dann bricht sie über dich hundertfach herein …
    Sie wusste jetzt, dass sie ihre Verwandten nicht freigeben würde. Genau wie Rake konnte sie sie nicht im Stich lassen, und genau wie Rake konnte sie ihnen nicht die Wahrheit sagen, wenn sie um Rechtfertigung baten oder sie forderten.
    Und daher, sollte dieser Augenblick bald kommen, muss ich Kraft finden – die Kraft zu führen – die Kraft, die Wahrheit vor meinen Verwandten zu verstecken.
    Oh, Elster, wie soll ich es dir sagen? Unsere Wünsche waren … einfach. Närrisch romantisch. Die Welt hält kein Paradies für dich und mich bereit, mein Liebster. Daher ist alles, was ich dir anbieten kann, dass du mich begleitest, dass du an meiner Seite bleibst. Und ich bete zu Mutter Dunkel, oh, wie ich bete, dass das für dich genug sein wird …
    Die Außenbezirke der Stadt zogen sich entlang des Flussufers hin, in einem Streifen aus weit verstreuten, baufälligen Fischerhütten, Räucherhäusern und trocknenden Netzen, vom Wind zerzaust und mit Unrat übersät. Die Siedlung reichte flussaufwärts bis direkt an den Rand der Niederungen, und tatsächlich erhoben sich sogar ein knappes Dutzend Hütten auf Stelzen, die durch erhöhte Gehwege miteinander verbunden waren, in der schilfbewachsenen Schlammlandschaft.
    Eine Doppelreihe von Stangen auf dieser Seite des Flusses kennzeichnete den breiten Unterwassergraben, der

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