SdG 05 - Der Tag des Sehers
dieses Gewirrs kommen.«
»Die wahren Herren!« Zorn flammte in Silberfuchs auf. »Diese Sphäre – sie war für euch !Wer wagt es, sie an sich zu rei – «
»Nein.« Die ruhige Entgegnung des Geistes fuhr durch sie hindurch, trieb ihr die Luft aus der Lunge. »Nicht für uns, Knochenwerferin. Wir sind nicht mächtig genug, um über eine solche Welt wie diese hier zu herrschen. Sie ist zu groß geworden, zu mächtig. Fürchte dich nicht – wir haben nicht den Wunsch, hier wegzugehen, und wir werden uns bemühen, mit den neuen Herren zu verhandeln. Ich glaube, dass sie uns erlauben werden, hier zu bleiben. Vielleicht werden wir sogar erfreut sein, ihnen zu dienen.«
»Nein!« Nein! So war das nicht gedacht!
»Knochenwerferin, es gibt keinen Grund, dass du solch starke Gefühle hegen solltest. Die Gestaltung dauert an. Die Erfüllung deiner Wünsche ist immer noch möglich – vielleicht nicht so, wie du es ursprünglich vorgehabt hast …«
Sie hörte ihm nicht mehr zu. Verzweiflung zerriss ihre Seele. Wie ich gestohlen habe … so ist es mir gestohlen worden. Darin liegt keine Ungerechtigkeit, kein Verbrechen. Akzeptiere die Wahrheit.
Nachtfrosts Willenskraft.
Flickenseels Einfühlungsvermögen.
Bellurdans Loyalität.
Das Staunen eines Rhivi-Kindes.
Nichts war genug. Keiner von ihnen konnte sich von dem freisprechen, was geschehen war, von den Entscheidungen, die getroffen worden waren, den Ablehnungen, die ausgesprochen worden waren. Keiner von ihnen – und auch nicht alle zusammen.
Lass sie. Überlass sie sich selbst und all dem hier und allem, was noch kommt. Silberfuchs wandte sich ab. »Dann sucht sie. Geht.«
»Wirst du nicht mit uns gehen? Dein Geschenk an sie – «
»Geht.«
Mein Geschenk an sie. Mein Geschenk an euch. Sie sind alle gleich. Große Fehlschläge, Niederlagen, geboren aus den Makeln in mir. Ich werde nicht hier bleiben und Zeuge meiner eigenen Schande werden – ich kann nicht. Ich habe nicht den Mut dazu.
Es tut mir Leid.
Sie ging fort.
Eintagsblume. Vom Samen zum Stängel zur tödlichen Blüte, alles binnen eines einzigen Tages. Hell brennendes Gift, das alle zerstört, die ihm zu nahe kommen.
Eine Abscheulichkeit.
Die Rhivi-Geister – eine kleine Gruppe, Männer, Frauen Kinder und Alte mit von Wind und Wetter gegerbten Gesichtern, die Häute und Felle trugen –, sahen zu, wie Silberfuchs wegging. Der Alte, der mit ihr gesprochen hatte, bewegte sich nicht, bis sie hinter dem Rand eines verwitterten Strandkamms aus dem Blickfeld verschwand, dann wischte er sich mit der Rückseite von vier Fingern in einer traurigen Abschiedsgeste über die Augen und sagte: »Macht ein Feuer. Bereitet das Schulterblatt des Ranag vor. Wir sind nun lange genug über dieses Land gewandert, um die Karte darin zu sehen.«
»Noch einmal«, seufzte eine alte Frau.
Der Ältere zuckte die Schulter. »Die Knochenwerferin hat befohlen, dass wir ihre Mutter suchen.«
»Sie wird nur wieder vor uns fliehen. Wie sie vor den Ay geflohen ist. Wie ein Hase – «
»Trotzdem. Die Knochenwerferin hat es befohlen. Wir werden das Schulterblatt in die Flammen legen. Wir werden sehen, wie die Karte ihre Form findet.«
»Und warum sollte es diesmal wahr sein?«
Der Ältere ging langsam in die Knie und drückte mit einer Hand auf die weichen Moospolster. »Warum? Öffne deine Sinne, Zweifelnde. Dieses Land«, er lächelte, »lebt jetzt.«
Er rannte.
Frei!
Ritt die Seele eines Gottes, in den Muskeln eines wilden, uralten Tiers. Ritt eine Seele -
- die plötzlich vor Freude sang. Moos und Flechten unter den Pfoten, Spritzer von altem Regen wasser, die das Fell an den Beinen benetzten. Der Geruch nach reichem, fruchtbarem Leben – eine Welt -
Er rannte. Der Schmerz war bereits nur noch eine verblassende Erinnerung, verschwommene Bilder eines Käfigs aus Knochen, wachsenden Drucks, ständiger flacher Atemzüge.
Er warf den Kopf zurück und stieß ein donnerndes Geheul aus, das den Himmel erzittern ließ.
Antworten aus weiter Ferne.
Die näher kamen.
Umrisse, graue, braune und schwarze, rasche Bewegungen auf der Tundra, die über Grate strömten, in flache Täler hinabjagten, breite Moränen. Ay. Verwandte. Die Kinder von Baaljagg – Fanderay – geisterhafte Erinnerungen, die die Seelen der T’lan Ay waren. Baaljagg hatte sie nicht freigelassen, hatte sie festgehalten, in ihrem Innern, in ihren Träumen – in einer alterslosen Welt, der ein Älterer Gott ewiges Leben eingehaucht
Weitere Kostenlose Bücher