SdG 05 - Der Tag des Sehers
Hügel stand, umgeben von Leichen und zerschmetterten K’Chain Che’Malle. Sah zu, wie ihr Kopf sich nach hinten neigte, wie sie das Gesicht langsam dem grauen Regenschleier entgegenhob. Der schwarze Berg, dessen Risse immer breiter wurden und aus dessen Innern ein Ächzen und Knirschen ertönte, schien genau über ihr Halt zu machen. Ein Herz, das einst aus Stein gewesen war und nun wieder menschlich geworden war.
Dieses Bild – das, was er jetzt sah – würde er niemals wieder vergessen, das wusste er mit schrecklicher Gewissheit.
Silberfuchs war – wie es ihr schien – lange gewandert, ohne auf die Richtung zu achten, empfindungslos allem gegenüber, was sie umgab, bis eine Bewegung in der Ferne sie aufblicken ließ. Sie stand jetzt auf der öden Tundra, unter einer festen weißen Wolkendecke und schaute zu, wie die Geister der Rhivi näher kamen.
Eine kleine Gruppe, mitleiderregend klein, weniger als vierzig, bedeutungslos auf die Entfernung, fast verschluckt von der gewaltigen Landschaft, dem Himmel, dieser feuchten Luft mit ihrer erbarmungslosen Kälte, die in ihre Knochen gekrochen war wie das Blut des Versagens.
Ereignisse hatten stattgefunden. Anderswo in dieser entstehenden Sphäre. So viel konnte sie spüren – der Hagel, diese Sintflut von Erinnerungen, von denen sie nicht wusste, wo sie herkamen. Und obwohl sie sie mit der gleichen blinden Zufälligkeit getroffen hatten, wie sie auf allen Seiten auf den Boden aufgeprallt waren, hatte sie nur den leisesten Hauch all dessen gespürt, was sie beinhaltet hatten.
Wenn das ein Geschenk war, dann war es ein bitteres.
Wenn es ein Fluch war, dann ist auch das Leben selbst ein Fluch. Denn in jenem gefrorenen Regen waren Leben gewesen. Ganze Leben, herabgeschickt, um das Fleisch dieser Welt zu treffen, einzusickern, den Boden mit ihrer Fruchtbarkeit aufzutauen.
Aber es hat nichts mit mir zu tun.
Nichts von alledem. Alles, was ich zu erschaffen versucht habe … zerstört. Diese Traumwelt war selbst eine Erinnerung. Die Geisterwelt von Tellann, Erinnerung an meine eigene Welt vor langer, langer Zeit. Erinnerungen, von dem Knochenwerfer genommen, der bei meiner Wiedererschaffung dabei war, von den Rhivi-Geistern, dem Ersten Clan, von K’rul genommen, von Kruppe. Vom schlafenden Land selbst genommen – von Brands eigenem Fleisch.
Ich selbst … ich habe nichts besessen. Ich habe einfach gestohlen.
Um eine Welt für meine Mutter zu erschaffen, eine Welt, in der sie noch einmal jung sein konnte, in der sie ein normales Leben führen, alt werden konnte in der normalen Spanne ihrer Jahre.
Alles, was ich ihr gestohlen hatte, wollte ich ihr zurückgeben.
Bitterkeit erfüllte Silberfuchs. Es hatte mit jenem ersten Hügelgrab begonnen, außerhalb von Fahl. Dieser Glaube an die Rechtschaffenheit, die Wirksamkeit eines Diebstahls. Gerechtfertigt von der besten aller Absichten.
Doch Besitz, seiner Rechtmäßigkeit beraubt, war eine Lüge. Alles, was sie gehütet hatte, wurde im Gegenzug seines Wertes beraubt. Erinnerungen, Träume, Leben.
Zu Staub geworden.
Die unglückliche Gruppe von Rhivi-Geistern kam näher, vorsichtig, zögernd.
Ja. Ich verstehe. Was werde ich jetzt von euch verlangen? Wie viele leere Versprechungen werde ich noch machen? Ich hatte ein Volk für euch, ein Volk, das schon vor langer Zeit seine eigenen Götter verloren hatte; seine eigenen Geister, denen sie einst die Treue geschworen hatten, waren weniger als der Staub, in den sie sich verwandeln konnten. Ein Volk.
Für euch.
Verloren.
Was für eine Lektion für vier gebundene Seelen – wir sind keine Kuppler, wir vier.
Sie wusste nicht, was sie ihnen sagen sollte – diesen bescheidenen, schüchternen Geistern.
»Knochenwerferin, wir grüßen dich.«
Silberfuchs blinzelte, bis ihre Augen klar waren. »Älterer Geist. Ich habe – «
»Hast du gesehen?«
Und dann sah sie in all ihren Gesichtern eine Art von Verwunderung. Und runzelte zur Antwort die Stirn.
»Knochenwerferin«, fuhr der vorderste Rhivi fort, »wir haben etwas gefunden. Nicht weit von hier – weißt du, wovon wir sprechen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es sind Throne, Knochenwerferin. Zwei Throne. In einer langen Hütte aus Knochen und Fellen.«
Throne? »Was – warum? Warum sollte es in dieser Sphäre Throne geben? Wer -?«
Der Ältere zuckte die Schultern, lächelte sie dann sanft an. »Sie warten, Knochenwerferin. Wir können spüren, dass das die Wahrheit ist. Bald. Bald werden die wahren Herren
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