SdG 06 - Der Krieg der Schwestern
uraltes Gewirr ist auseinander gebrochen, und seine Fragmente sind in alle Sphären zerstreut worden. Die Göttin des Wirbelwinds besitzt Macht, doch war diese, zumindest anfangs, nicht ihre eigene. Nur ein weiteres Fragment, das verloren und voller Schmerzen dahinwanderte. Was war die Göttin, frage ich mich manchmal, als sie das erste Mal über den Wirbelwind gestolpert ist? Die unbedeutende Gottheit eines Wüstenstammes, vermute ich. Ein Geist des Sommerwinds, möglicherweise auch der Schutzgeist einer sprudelnden Quelle. Fraglos eine unter vielen. Nachdem sie sich das Fragment angeeignet hatte, dauerte es natürlich nicht lange, bis sie ihre alten Rivalen und Rivalinnen vernichtet und ihre absolute, rücksichtslose Vorherrschaft über die Heilige Wüste geltend gemacht hat.«
»Eine wunderliche Theorie, Geisterhand«, sagte Felisin gedehnt. »Doch sie sagt nichts über die Sieben Heiligen Städte, die Sieben Heiligen Bücher, die Prophezeiung von Dryjhna, der Apokalyptischen.«
Heboric stieß ein Schnauben aus. »Kulte nähren einander gegenseitig, Schätzchen. Manchmal werden komplette Mythen einbezogen, um den Glauben zu befeuern. Das Reich der Sieben Städte wurde von Nomadenstämmen gegründet, doch das Erbe, auf dem sie aufgebaut haben, war das einer uralten Zivilisation, die ihrerseits unbehaglich auf den Fundamenten eines noch älteren Imperiums ruhte – des Ersten Imperiums der T’lan Imass. Was letztlich in Erinnerung bleibt und überlebt oder vergessen wird und verschwindet, hängt nur vom Zufall und den Umständen ab.«
»Poeten mögen Verlangen kennen«, kommentierte sie trocken, »aber Historiker verschlingen. Und durch Verschlingen ermordet man die Sprache, macht aus ihr ein totes Ding.«
»Das ist nicht das Verbrechen der Historiker, Schätzchen, sondern das der Kritiker.«
»Warum Haarspalterei betreiben? Gelehrte dann eben.«
»Beklagst du dich darüber, dass meine Erklärung die Mysterien des Pantheons zerstört? Felisin, es gibt in dieser Welt Dinge, über die zu staunen sich sehr viel mehr lohnt. Überlass die Götter und Göttinnen ihren krankhaften Obsessionen.«
Ihr Lachen erschütterte ihn erneut. »Oh, du bist wirklich unterhaltsam, alter Mann! Ein Priester, der von seinem Gott verstoßen wurde. Ein Historiker, der einst für seine Theorien in den Kerker geworfen wurde. Ein Dieb, der nichts mehr findet, das wert wäre, gestohlen zu werden. Nicht ich bin diejenige, die auf der Suche nach einem Wunder ist.«
Er hörte, wie sie aufstand. »Jedenfalls«, fuhr sie fort, »bin ich losgeschickt worden, um dich zu holen.«
»Ach? Sha’ik braucht also wieder einmal einen Rat, den sie danach zweifellos ignorieren wird?«
»Dieses Mal nicht. Leoman will mit dir sprechen.«
Heboric machte ein finsteres Gesicht. Und wo Leoman ist, wird auch Toblakai nicht weit sein. Der nur über eine einzige positive Eigenschaft verfügt: dass er sich an seinen Schwur hält und nie wieder mit mir spricht. Dennoch werde ich spüren, wie er mich anblickt. Mit seinen Mörderaugen. Wenn es in diesem Lager jemanden gibt, der verbannt werden sollte, dann … Er stand mühsam auf. »Wo finde ich ihn?«
»Im Grubentempel«, erwiderte sie.
Natürlich. Und was, mein liebes Schätzchen, hast du da mit Leoman zusammen getan?
»Ich würde dich ja an die Hand nehmen«, fügte Felisin hinzu, »aber ich finde die Berührung deiner Hände ein bisschen zu poetisch.«
Sie ging neben ihm her, den Abhang hinunter und danach zwischen den beiden riesigen Pferchen hindurch, die im Augenblick leer waren, da die Ziegen und Schafe den Tag über auf die Weiden östlich der Ruinen getrieben worden waren. Sie schritten durch eine breite Bresche in der Mauer der Ruinenstadt, kreuzten eine der Hauptstraßen, die zu dem Wirrwarr aus weit verstreuten, riesigen Gebäuden führte, von denen nur noch Fundamente und halbverfallene Mauern übrig geblieben waren und die in ihrer Gesamtheit nur als Tempelring bezeichnet wurden.
Lehmziegelhütten, Yurten und Fellzelte bildeten eine moderne Stadt auf den Ruinen. Kleine Märkte unter breiten, ganze Straßenzüge bedeckenden Markisen wimmelten von Geschäftigkeit und erfüllten die heiße Luft mit tausenden von Stimmen und dem Duft nach frisch gekochtem Essen. Angehörige der hiesigen Stämme, die ihrem Kriegshäuptling Mathok gefolgt waren – der in Sha’iks Armee eine Position innehatte, die etwa der eines Generals entsprach –, mischten sich mit Hundeschlächtern, scheckigen Banden aus
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