SdG 07 - Das Haus der Ketten
irgendwelche Pässe klettern musste. Zu seiner Rechten konnte er in weniger als zwei Längen Entfernung noch immer den ockergelben Sand der Wüstensenke sehen, und er wusste nur zu gut, dass die Sonne dort unten heiß brannte – die gleiche Sonne, die hier oben als eine verwaschene Kugel aus kaltem Feuer auf ihn herabblickte.
Der Schnee reichte ihm bis zum Schienbein und behinderte seinen langsamen Trab. Irgendwie schafften es die Wölfe, über die vom Wind gehärtete, verkrustete Oberfläche zu laufen und dabei nur gelegentlich mit einer Pfote einzubrechen. Der Nebel, der Jäger und Beute gleichermaßen einhüllte, war in Wirklichkeit eine Wolke aus gleißend hellen, glitzernden Schneekristallen.
Irgendwo im Westen würde der Gebirgszug enden, hatte man Karsa gesagt. Dann würde sich zu seiner Rechten ein Meer erstrecken und weiter voraus und links eine schmale, unregelmäßige Reihe von Hügeln. Wenn er über diese Hügel und dann nach Süden weiterzog, würde er auf eine Stadt stoßen. Lato Revae. Der Teblor wollte sie nicht aufsuchen, also würde er sie umgehen müssen. Je eher er die zivilisierten Gegenden hinter sich ließ, desto besser. Doch bis dahin würde er noch zwei Flüsse überqueren müssen und wochenlang unterwegs sein.
Obwohl er alleine den Abhang entlangrannte, konnte er die Gegenwart seiner beiden Gefährten spüren. Im günstigsten Fall waren sie Geister, vielleicht aber auch nichts weiter als abgespaltene Bruchstücke seines eigenen Geistes. Der misstrauische, immer zweifelnde Bairoth Gild. Und der unerschütterliche Delum Thord. Facetten seiner eigenen Seele, damit er in seinen von Selbstzweifeln geprägten Zwiegesprächen fortfahren konnte. Also vielleicht nichts weiter als ein Zeichen der Schwäche.
So hätte es zumindest sein können, wären da nicht die zahllosen, treffsicheren Spitzen von Bairoth Gilds Kommentaren gewesen. Zu manchen Zeiten fühlte sich Karsa wieder wie ein Sklave, der sich unter nie endenden Peitschenhieben zusammenkrümmt. Die Möglichkeit, dass er sich dies selbst zufügen könnte, lag jenseits seines Vorstellungsvermögens.
»Nicht ganz jenseits, Kriegsführer, wenn du dir einen Augenblick Zeit nehmen und deine eigenen Gedanken genauer ansehen würdest.«
»Nicht jetzt, Bairoth Gild«, erwiderte Karsa. »Ich gerate auch so schon außer Atem.«
»Das liegt an der Höhe, Karsa Orlong«, erklang Delum Thords Stimme. »Du merkst es zwar nicht, aber du kommst mit jedem Schritt in Richtung Westen tiefer. Schon bald wirst du den Schnee hinter dir lassen. Die Raraku mag einst ein Binnenmeer gewesen sein, doch dieses Meer hat im Schoß hoher Berge gelegen. Deine ganze bisherige Reise ist ein Abstieg gewesen, Kriegsführer.«
Karsa konnte für diesen Gedanken nur ein Knurren erübrigen. Er hatte nichts von einem Abstieg gespürt, doch in diesem Land spielte der Horizont trügerische Spiele. Die Wüste und die Berge logen immer, das hatte er schon vor langer Zeit festgestellt.
» Wenn wir aus dem Schnee heraus sind«, murmelte Bairoth Gild, » werden die Wölfe angreifen .«
»Ich weiß. Und jetzt sei still – ich kann da vorn nackten Fels sehen.«
Das konnten die Jäger auch. Es waren mindestens ein Dutzend, mit mehr Schulterhöhe als die in Karsas Heimat, das Fell in Tönen von Schwärzlich-Braun, Grau und Scheckig-Weiß. Der Teblor schaute zu, wie vier von den Tieren – zwei an jeder Seite – vorausrannten, dem nackten Fels zustrebten.
Mit einem Knurren zog Karsa sein hölzernes Schwert aus der Schlaufe. Die beißende, kalte Luft hatte seine Hände ein wenig gefühllos gemacht. Hätte es am westlichen Ende der Heiligen Wüste irgendwelche Wasserstellen gegeben, wäre er nicht in diese Höhen aufgestiegen, doch es hatte keinen Sinn, diese Entscheidung jetzt im Nachhinein in Frage zu stellen.
Er konnte die keuchenden Atemzüge der Wölfe zu beiden Seiten und hinter sich hören.
»Sie wollen festen Boden unter den Füßen haben, Kriegsführer. Aber das willst auch du. Achte auf die drei hinter dir – sie werden zuerst angreifen, wahrscheinlich einen oder zwei Schritt, bevor du den Fels erreichst.«
Karsa bleckte bei Bairoths unnötigem Ratschlag die Zähne. Er wusste nur zu gut, was diese Tiere tun würden – und wann.
Ein plötzliches Tappen von Pfoten, Schneefahnen wehten auf – und alle Wölfe rannten an dem überraschten Karsa vorbei. Klauen kratzten über den nackten Fels, Schmelzwasser spritzte auf, als die Tiere herumwirbelten und vor dem Teblor einen
Weitere Kostenlose Bücher