SdG 08 - Kinder des Schattens
Herzschlägen selbst gesagt hatte. Die Gefallenen. Wer folgt unseren Fußspuren, frage ich mich? Uns, die wir die Vergessenen sind, die Beeinträchtigten und die Unbeachteten. Auch wenn der Pfad der falsche ist, so wird er doch niemals willentlich gewählt. Die Gefallenen. Warum weint mein Herz um sie? Nicht um sie, sondern um uns, ganz gewiss. Ich werde zu ihnen gezählt. Sklaven, Leibeigene, namenlose Bauern und Arbeiter, die verschwommenen Gesichter in der Menge – nur ein Fleck in der Erinnerung, das Schlurfen von Füßen entlang der seitlichen Durchgänge der Geschichte.
Kann man stehen bleiben, kann man sich umdrehen und die eigenen Augen zwingen, die Düsternis mit Blicken zu durchdringen? Und dann die Gefallenen sehen? Kann man jemals die Gefallenen sehen? Und wenn dem so ist – was für ein Gefühl kommt dann in diesem Augenblick auf?
Tränen liefen über seine Wangen und tropften auf seine wunden Hände. Er kannte die Antwort auf diese Frage, sie bohrte sich scharf wie ein Messer tief in sein Inneres. Die Antwort lautete … Erkenntnis.
Hull Beddict trat an Seren Pedacs Seite, als Mayen fortging. Hinter ihnen sprachen die Nerek in ihrer Muttersprache miteinander, raue, harte Worte, angespannt und ungläubig. Regentropfen prasselten zischend in die Kochfeuer.
»Das hätte sie nicht tun sollen«, sagte Hull.
»Nein, hätte sie nicht«, stimmte Seren ihm zu. »Andererseits ist mir immer noch nicht ganz klar, was gerade geschehen ist. Es waren schließlich nur Worte … oder?«
»Sie hat sie nicht zu Gästen erklärt, Seren. Sie hat ihre Ankunft gesegnet.«
Die Freisprecherin warf einen Blick auf die Nerek, runzelte angesichts ihrer nervösen Gesichter die Stirn. »Wovon reden sie?«
»Sie benutzen den alten Dialekt – es sind ein paar Worte aus der Händlersprache dabei, die ich verstehe, aber viele andere verstehe ich nicht.«
»Ich wusste nicht, dass die Nerek zwei Sprachen haben.«
»Ihr Name wird in den Annalen der Ersten Landungen erwähnt«, sagte Hull. »Sie sind das einheimische Volk, dessen Gebiet den ganzen Süden umfasste. Es waren Nerek, die die ersten Schiffe näher kommen sahen. Nerek, die kamen, um die ersten Letherii zu begrüßen, die ihren Fuß auf diesen Kontinent setzten. Nerek, die mit ihnen Handel trieben, die den Kolonisten beibrachten, wie man in diesem Land lebt, die ihnen das Gegenmittel gegen die Hitzefieber gegeben haben. Sie sind schon lange, lange Zeit hier. Zwei Sprachen? Ich bin überrascht, dass es nicht tausend sind.«
»Nun«, sagte Seren Pedac nach einem Augenblick, »zumindest sind ihre Lebensgeister wieder erwacht. Sie werden essen und tun, was Buruk ihnen befiehlt …«
»Ja. Aber ich spüre eine neue Furcht – keine, die sie unfähig macht, aber ein Quell für besorgte Gedanken. Anscheinend begreifen nicht einmal sie die volle Bedeutung dieses Segens.«
»Dies hier war niemals ihr Land, oder?«
»Ich weiß es nicht. Die Edur behaupten natürlich, schon immer hier gewesen zu sein, seit der Zeit, da das Eis sich zum ersten Mal von der Welt zurückgezogen hat.«
»Ach ja, das hatte ich ganz vergessen. Ihr merkwürdiger Schöpfungsmythos. Echsen und Drachen und Eis, und ein verratener Gottkönig.«
Nach einem kurzen Moment warf sie ihm einen Blick zu und stellte fest, dass er sie anstarrte.
»Was ist los, Hull?«
»Woher weißt du diese Dinge? Es hat Jahre gedauert, bis Binadas solche Informationen preisgegeben hat, und dann in Form eines feierlichen Geschenks, nachdem wir uns aneinander gebunden hatten.«
Seren blinzelte. »Ich habe es irgendwo … gehört. Nehme ich an.« Sie zuckte die Schultern, wischte sich Regenwasser aus dem Gesicht. »Alle haben irgendeinen Schöpfungsmythos. Normalerweise ziemlicher Unsinn. Oder aber tatsächliche Erinnerungen, vollkommen durcheinander geraten und getränkt mit Magie und Wundern.«
»Du tust diese Dinge erstaunlich leicht ab, Freisprecherin.«
»Und was glauben die Nerek?«
»Dass sie alle von einer einzigen Mutter geboren wurden, vor zahllosen Generationen, die das Feuer gestohlen hat und durch die Zeit gewandert ist und nach einer Antwort auf ein Bedürfnis gesucht hat, das sie verzehrt hat – obwohl sie nie herausgefunden hat, was für ein Bedürfnis es eigentlich war. Eines Tages hat sie auf ihrer Reise einen geheiligten Samen mitgenommen und so ein Mädchen geboren. Nach außen hin«, fuhr er fort, »hat sich das Kind kaum von seiner Mutter unterschieden, denn die Heiligkeit war verborgen und ist
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