SdG 08 - Kinder des Schattens
»herrscht tatsächlich ein großes Gedränge. Hütet euch vor den Brüdern! Hört zu! Blut webt ein Netz, in dem sich die ganze Welt verfangen wird! Niemand wird entkommen, niemand wird irgendwo Zuflucht finden!« Ihre rechte Hand zuckte vor, verteilte die alten Fliesen auf dem Fußboden. Von den Dachsparren hoch über ihnen barsten Tauben aus der Düsternis, ein wildes, chaotisches Flügelschlagen. Sie kreisten hektisch, Federn segelten herab.
»Die Beobachter stehen unbeweglich da, als wären sie aus Stein! Ihre Gesichter sind Masken des Entsetzens. Die Gebieterinnen tanzen voller vereiteltem Verlangen.« Ihre Augen waren geschlossen, dennoch deutete sie auf eine Fliese nach der anderen, benannte sie mit rauer, krächzender Stimme. »Die Wanderer sind durch das Eis gebrochen, und kalte Dunkelheit naht mit ihrer tödlichen Umarmung. Die Schreiter können in dem zunehmenden Strudel, der sie immer weiter zieht, nicht Halt machen. Die Erlöser …«
»Was sagt sie da?«, wollte Seren Pedac wissen. »Sie hat sie alle zur Mehrzahl gemacht – die Spieler im Innern der Feste des Leeren Throns – aber das ergibt keinen Sinn …«
»… stehen einander gegenüber, und beide sind dem Untergang geweiht, und in einer gebrochenen Spiegelung stehen auch die Verräter da, und das ist es, was uns bevorsteht, was uns allen bevorsteht.« Bei den letzten Worten wurde ihre Stimme immer leiser, und wieder einmal senkte sich ihr Kinn, ihr Kopf sank nach vorn, das lange Haar fiel herunter und verbarg ihr Gesicht.
Die Tauben über ihren Köpfen drehten noch immer ihre Runden, und das war das einzige Geräusch in der großen Scheune.
»Bewerber um den Leeren Thron«, flüsterte Federhexe mit sorgenvoller Stimme. »Blut und Wahnsinn …«
Langsam lockerte Udinaas seinen Griff um Seren Pedacs Arm.
Sie rührte sich nicht, war genauso erstarrt wie alle anderen.
Udinaas grunzte amüsiert und sagte zur Freisprecherin: »Sie hat in letzter Zeit nicht gut geschlafen, müsst Ihr wissen.«
Seren Pedac taumelte nach draußen, in den strömenden kalten Regen. Eine zischende Flut auf den Kieselsteinen des Pfads, winzige Flüsschen, die sich ihren Weg im Sand suchten. Der dahinter liegende Wald sah aus, als würde er von strömenden Fäden und Seilen nach unten gezogen. Ein zorniges Rauschen aus der Richtung, in der der Fluss und das Meer lagen. Als ob die Welt in Schmelzwasser zusammenbrächte.
Sie blinzelte gegen die kalten Tränen an.
Und erinnerte sich an die spielenden Edur-Kinder, das vergängliche Gemurmel von vor tausend Augenblicken, das jetzt in ihrem Verstand bereits so weit zurücklag wie ein Echo von Erinnerungen, die jemand anderem gehörten. An Zeiten, die verwittert und glatt und formlos geworden waren.
Erinnerungen eilten dahin, eilten hinunter zum Meer.
Wie Kinder auf der Flucht.
Kapitel Acht
Wo sind die Tage, die wir einst
so locker in unseren sicheren Händen hielten?
Wann haben diese dahinrasenden Ströme
unergründliche Höhlen unter unseren Füßen ausgewaschen?
Und wie konnte diese Szene wanken und sich verwandeln
um unsere geschickten Lügen gefahrvoll zu machen
An den Orten, an denen sich die Jungen treffen werden
in den Landen unserer stolzen Träume?
Wo sind inmitten all derer hier vor mir
die Gesichter, die ich einst gekannt habe?
In die Mauer gemeißelte Worte
K’ruls Glockenturm, Darujhistan
I
n der Schlacht, in der Theradas Buhn zum Gebluteten geworden war, hatte ein Säbel der Merude ihm die rechte Wange aufgeschlitzt, den Knochen unter dem Auge zerschmettert und den Oberkiefer durchbohrt, um schließlich in seinem Unterkiefer stecken zu bleiben. Es hatte lange gedauert, bis die schlimme Verletztung verheilt war. Der Faden, der zum Nähen der klaffenden Wunde benutzt worden war, hatte das Fleisch eitern lassen, bis seine Kameraden den Krieger zu einem in der Nähe gelegenen Lager der Hiroth hatten schaffen können, wo eine Heilerin getan hatte, was sie konnte – das Fieber vertreiben, die Knochen zusammenfügen. Das Ergebnis waren eine lange, krumme Narbe inmitten einer zerschrammten Delle auf dieser Wange und ein eine gewisse Leere in Theradas’ Augen, die auf unsichtbare Wunden hindeutete, die niemals heilen würden.
Trull Sengar saß mit den anderen fünf Schritt vom Rand des Eisfelds entfernt und beobachtete Theradas, der entlang der verkrusteten Schicht aus Eis und Schnee auf und ab ging. Sein Umhang – ein Fuchspelz mit rötlichen Schwanzspitzen – wehte unruhig
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