SdG 08 - Kinder des Schattens
zum Großen Treffen. Es war gewünscht, dass sie getötet werden. Die Letherii haben unsere Reaktion vorausgesehen, denn genau dies sind die Spiele auf Leben und Tod, die sie gerne mit uns spielen möchten. Sollen wir tun, was sie erwarten? Natürlich. Auf diese Missetat kann es nur eine Antwort geben. Und indem wir auf vorhersehbare Weise handeln, folgen wir einem unbekannten Plan, der sich zweifellos beim Großen Treffen enthüllen wird.«
Tiefes Stirnrunzeln allerseits. Unverhüllte Verwirrung. Hannan Mosag hatte sie in die unvertrauten Gefilde komplexer Gedankengänge geführt. Er hatte sie an den Rand eines unbekannten Pfads gebracht, und jetzt würde er sie vorwärts führen, langsam und vorsichtig – einen Schritt nach dem anderen.
»Die Plünderer werden sterben«, fasste der Hexenkönig noch einmal zusammen, »aber keiner von euch soll ihr Blut vergießen. Wir tun, was sie erwarten, aber auf eine Art und Weise, die sie sich nicht ausmalen konnten. Es wird die Zeit kommen, da es ein Gemetzel an den Letherii gibt, aber diese Zeit ist nicht jetzt. Ja, ich verspreche euch Blut, meine Krieger. Aber nicht jetzt. Den Plünderern soll nicht die Ehre erwiesen werden, durch eure Hände zu sterben. Ihr Schicksal wird sich in Kurald Emurlahn erfüllen.«
Wider Willen erschauerte Trull Sengar.
Einmal mehr herrschte Schweigen in der Halle.
»Eine vollständige Enthüllung durch meine K’risnan«, fuhr Hannan Mosag mit grollender Stimme fort. »Keine Waffe, keine Rüstung wird den Letherii etwas nützen. Ihre Magier werden blind und verloren sein, unfähig, sich dem entgegenzustellen, das über sie kommen wird. Die Plünderer werden schmerzvoll und entsetzt sterben. Von Furcht besudelt, weinend wie Kinder – und dieses Schicksal wird in ihren Gesichtern geschrieben stehen, sichtbar für diejenigen, die sie finden werden.«
Trulls Herz hämmerte wild, sein Mund war staubtrocken. Eine vollständige Enthüllung. Über welche lang verlorene Macht war Hannan Mosag gestolpert? Das letzte Mal war Kurald Emurlahn von Scabandari Blutauge vollständig enthüllt worden, von Vater Schatten höchstpersönlich. Das war, bevor das Gewirr zerrissen worden war. Und jene Wunde war noch nicht geheilt. Sie würde, wie Trull vermutete, niemals geheilt werden. Doch auch so waren manche Bruchstücke größer und mächtiger als andere. Hatte der Hexenkönig ein neues Fragment entdeckt?
Verblasst, mitgenommen und angeschlagen lagen die Keramikfliesen vor Federhexe. Das Werfen war bereits erfolgt, als Udinaas in die stauberfüllte Scheune stolperte, um von dem Omen zu erzählen – um die junge Sklavin davor zu warnen, die Festen zu betrachten. Zu spät. Zu spät.
Hundert Sklaven hatten sich aus diesem Anlass hier versammelt, weniger als gewöhnlich, doch das war nicht weiter überraschend, denn vermutlich hatten viele Edur-Krieger ihren Sklaven aufgetragen, sich um die Vorbereitungen für das erwartete Geplänkel zu kümmern. Köpfe drehten sich, als Udinaas den Kreis betrat. Doch er hielt den Blick auf Federhexe gerichtet.
Ihre Seele war den Pfad zu den Festen bereits ein gutes Stück entlanggeschritten. Sie ließ den Kopf hängen, das Kinn befand sich zwischen ihren vorstehenden Schlüsselbeinen, ihr dichtes, blondes Haar hing lang herunter, und ein rhythmisches Zittern lief durch ihren kleinen, kindlichen Körper. Federhexe war vor achtzehn Jahren im Dorf geboren worden; sie war eine der seltenen Wintergeburten – selten in dem Sinne, dass sie überlebt hatte –, und ihre Gabe war bekannt geworden, noch bevor sie vier Jahre alt war, als ihre Träume in die Vergangenheit zurückgewandert waren und sie mit den Stimmen der Vorfahren gesprochen hatte. Die alten Fliesen mit den Festen waren aus dem Grab des letzten Letherii im Dorf geholt worden, der über diese Gabe verfügt hatte, und dann dem Kind überreicht worden. Es hatte niemanden gegeben, der sie die Geheimnisse der Fliesen hätte lehren können, doch wie sich herausstellte, brauchte sie keine Unterweisung von Sterblichen – das hatten geisterhafte Vorfahren übernommen.
Sie war eine Magd von Mayen, und durch Mayens Hochzeit mit Forcht würde sie in den Haushalt der Sengars übergehen. Und Udinaas liebte sie.
Hoffnungslos, natürlich. Federhexe würde einen Ehemann aus dem Kreis der höher geborenen Letherii-Sklaven bekommen, einen Mann, dessen Familie zu Hause in Letheras über Titel und Macht verfügte. Ein Schuldner wie Udinaas konnte sich keine Hoffnung machen,
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