Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
SdG 08 - Kinder des Schattens

SdG 08 - Kinder des Schattens

Titel: SdG 08 - Kinder des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Ericson
Vom Netzwerk:
unergründliche Unbekannte hinauszustarren – auf das Meer. Der nachgiebige Sand und die Steine unter seinen Füßen flüsterten von Unsicherheit, gekrächzte Versprechen von Auflösung und Erosion all dessen, was einst einmal fest gewesen war.
    In der Welt fanden sich all die offenkundigen Symbole, die als Spiegelung des menschlichen Geistes dienten, und in dem anschließenden Zwiegespräch stieß man auf alle Bedeutungen, alle Farbtöne und Gerüche, eine Legion, die sich den Blicken preisgab. Es blieb demjenigen überlassen, der sie erkannte, zu entscheiden, ob er erkennen oder leugnen wollte.
    Udinaas saß auf einem halb begrabenen Baumstumpf, und die heranrauschende Gischt zupfte an seinen Mokassins. Er war nicht blind, und es gab keine Hoffnung auf ein Leugnen. Er sah das Meer als das, was es war, die aufgelösten Erinnerungen der Vergangenheit, bezeugt in der Gegenwart und fruchtbarer Brennstoff für die Zukunft. Das Antlitz der Zeit selbst. Er sah die Gezeiten in ihrem unveränderlichen Säuseln, ihr gewaltiges Rauschen, als wären sie Blut vom kalten Herzmond, ein gleichmäßiger – und darum messbarer - Puls der Zeit. Gezeiten, die niemand beherrschen konnte.
    Jedes Jahr wurde einer der Letherii-Sklaven, die bis zur Brust im Wasser standen und Netze auswarfen, von einem Sog ergriffen und hinaus aufs Meer gespült. Einige wurden später von den Wellen zurückgebracht, leblos und aufgedunsen und angefressen von den Krabben. Zu anderen Zeiten schwemmten die Gezeiten Leichen und Kadaver von unbekannten Katastrophen heran, und die Trümmer von Schiffen. Vom Leben zum Tod – wieder und wieder überbrachte die riesige Wüste aus Wasser jenseits des Ufers die gleiche Botschaft.
    Vor Erschöpfung zusammengekauert saß er da, den Blick auf die Wogen gerichtet, die sich am weiter draußen gelegenen Riff brachen, auf das rollende weiße Band, das im Rhythmus eines Herzschlags wieder und wieder hereinkam, während von allen Seiten Wogen voller Bedeutung heranrasten. Am grauen, schweren Himmel. In den laut schallenden Rufen der Möwen. Im Nieselregen, der von einem stöhnenden Wind herangetragen wurde. Dem unsicheren Sand, der unter seinen voll gesogenen Mokassins wegrutschte. Enden und Anfänge, der Rand der bekannten Welt.
    Sie war aus dem Haus der Toten gestürmt und fortgelaufen. Die junge Frau, der er sein Herz zu Füßen gelegt hatte. In der Hoffnung, dass sie einen Blick darauf werfen würde; oder – der Abtrünnige sollte ihn holen – dass sie es vielleicht sogar aufheben und verschlingen würde wie ein grinsendes Tier. Alles, alles, nur nicht … weglaufen.
    Er war im Haus der Toten bewusstlos geworden – oh, hat das irgendeine Bedeutung? – und hinausgetragen worden, vermutlich zu seiner Koje im Langhaus der Sengars. Dort war er später aufgewacht; wie lange er bewusstlos gewesen war, wusste er nicht, denn er war allein gewesen. Kein einziger anderer Sklave außer ihm war mehr im ganzen Gebäude gewesen. Es war auch kein Essen vorbereitet, genausowenig wie schmutziges Geschirr oder ein anderer Hinweis auf ein noch nicht lange zurückliegendes Mahl zu sehen gewesen war. Der Herd war ein Hügel aus weißer Asche über ein paar glimmenden Kohlen. Draußen herrschte – abgesehen von der schwachen Stimme des Windes und dem in der Nähe zu hörenden Tröpfeln von Regenwasser – Stille.
    Mit benebeltem Kopf hatte er schließlich langsam und unbeholfen das Feuer wieder in Gang gebracht. Dann hatte er sich einen Regenumhang gesucht und war ins Freie gegangen. Da er in der Nähe’ niemanden entdecken konnte, war er hinunter zum Ufer gegangen. Um hinaus auf das leere, aufgeblähte Meer zu starren und hoch zum leeren, aufgeblähten Himmel. Ganz zerschlagen von der Stille und ihrem heulenden Wind und den Schreien der Möwen und dem spritzenden Regen. Allein am Strand, inmitten dieser lärmenden Legion.
    Der tote Krieger, der am Leben war.
    Die Letherii-Priesterin, die geflohen war, als ein Mann ihres Volkes sie gebeten hatte, ihm Trost und Unterstützung zu gewähren.
    Udinaas vermutete, dass die Edur sich jetzt alle in der Zitadelle des Hexenkönigs versammelten. Dass dort ein schrecklicher Kampf tobte – ein Kampf der Willen –, und in seiner Mitte wie eine in endlosen Zyklen sturmumtoste Insel die monströse Gestalt Rhulad Sengars stand, der sich aus dem Haus der Toten erhoben hatte. In Gold gerüstet, in Wachs gekleidet, wahrscheinlich angesichts all des Gewichts unfähig zu gehen – zumindest so lange, bis

Weitere Kostenlose Bücher