SdG 08 - Kinder des Schattens
traurigen Mangel an Vorstellungsvermögen. Wie sie es alles in allem erwartet hatte. Ein anmaßender Dienstherr bewirkte genau dies. Eigene Gedanken waren gefährlich, denn sie prallten unausweichlich mit Geruns ungeheuerlichem Ego zusammen.
Shurq schlüpfte aus Prists erschöpfter, kindlicher Umarmung und stand lautlos auf, um sich anzuziehen und ihre Ausrüstung anzulegen. Gerun hatte bestimmt ein Arbeitszimmer, das sich an seine privaten Gemächer anschloss. Männer wie Gerun hatten immer ein Arbeitszimmer. Es befriedigte ihr Verlangen nach Legitimität.
Die Verteidigungseinrichtungen würden höchst raffiniert sein, die magischen Schilde teuer und meisterhaft. Jedoch nicht kompliziert genug, um einen Finadd zu verwirren. Entsprechend schlicht würden auch die Mechanismen sein, mit denen man sie ausschalten konnte. Was man natürlich noch bedenken musste, war die Tatsache, dass Gerun nicht da war. Wahrscheinlich gab es zusätzliche Schutzzauber, die nicht so einfach außer Kraft gesetzt werden konnten. Sie nahm an, dass sie sich hauptsächlich auf lebende Wesen bezogen, denn alle anderen wurden viel leichter zufällig ausgelöst.
Lautlos trat sie wieder auf den Gang hinaus. Schlafgeräusche, sonst nichts. Zufrieden begab Shurq sich zu der T-Kreuzung und wandte sich nach links. Als sie die Treppe hinaufstieg, achtete sie sorgfältig darauf, ihren Fuß immer nur dort aufzusetzen, wo die Fugen die Wahrscheinlichkeit eines verräterischen Knarrens verringerten.
Ohne Probleme erreichte Shurq den ersten Absatz, trat dicht an die Tür heran und verharrte. Reglos. Ein Stolperdraht verlief zwischen Tür und Rahmen, wahrscheinlich vom letzten Diener, der hier durchgekommen war, angebracht. Manchmal funktionierten die einfachsten Alarmvorrichtungen, wo kompliziertere versagten, und sei es auch nur, weil der Dieb mit etwas viel Komplizierterem gerechnet hatte. Sie löste den Mechanismus und betätigte den Riegel.
Und kam in einen weiteren Durchgang für die Bediensteten, der parallel zum offiziellen Korridor verlaufen musste, wenn man davon ausging, dass Geruns Anwesen auf typische Weise erbaut war. Sie fand die einzelne Tür genau da, wo sie sie erwartet hatte, am hinteren Ende auf der rechten Seite. Ein weiterer Stolperdraht musste gelöst werden, dann trat sie hindurch. Der Korridor war unbeleuchtet, was ziemlich klug war. Drei Türen an der gegenüberliegenden Wand; aus den Räumen dahinter drang keinerlei Lichtschein.
Sie war sich ziemlich sicher, dass sie Gerun Ebericts private Gemächer gefunden hatte. In der Düsternis kaum zu erkennen waren ein paar geheimnisvolle Zeichen, die auf die nächste Tür gemalt waren.
Shurq schob sich näher heran, um die Symbole genauer zu betrachten.
Und erstarrte, als eine dumpfe Stimme aus dem Korridor erklang. »Es war Unvermögen. Sagt er zumindest. Und jetzt soll ich es wieder gutmachen.«
Sie drehte sich langsam um. Eine sitzende Gestalt, zurückgelehnt, die Beine von sich gestreckt, den Kopf zu einer Seite geneigt.
»Du bist tot«, sagte der Mann.
»Ist das ein Versprechen oder eine Feststellung?«
»Einfach etwas, das wir gemeinsam haben«, antwortete er. »So was passiert mir nicht oft, nicht mehr.«
»Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Dann lässt Gerun dich also hier seine Gemächer bewachen.«
»Das ist meine Buße.«
»Für deine Unfähigkeit.«
»Ja. Gerun wirft keine Leute hinaus, musst du wissen. Er tötet sie, und dann vergräbt er sie entweder oder er behält sie noch eine Weile, je nachdem, wie wütend er ist. Ich nehme an, er wird mich schließlich doch noch begraben.«
»Ohne deine Seele freizulassen?«
»Nun, diesen Teil vergisst er häufig.«
»Ich bin hier, um ihm alles zu stehlen, was er besitzt.«
»Wenn du lebendig wärst, würde ich dich natürlich auf irgendeine scheußliche, entsetzliche Weise töten. Ich würde von diesem Stuhl aufstehen, mit schlurfenden Füßen und ausgestreckten Armen, während meine Hände nach der Luft greifen. Ich würde unmenschliche Geräusche von mir geben und ächzen und zischen, als lechzte ich danach, meine Zähne in deine Kehle zu schlagen.«
»Das würde gewiss ausreichen, einen Dieb abzuschrecken. Einen lebenden, heißt das.«
»Das würde es, und ich würde es vermutlich sogar genießen.«
»Aber ich lebe nicht, oder?«
»Nein. Aber ich habe eine Frage an dich – eine sehr wichtige Frage.«
»In Ordnung. Frage.«
»Warum siehst du so gut aus, wenn du doch tot bist? Wer hat dir die Haare
Weitere Kostenlose Bücher