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SdG 09 - Gezeiten der Nacht

SdG 09 - Gezeiten der Nacht

Titel: SdG 09 - Gezeiten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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Eure Aufgabe? Nur die, einem alten Mann heute Nacht Gesellschaft zu leisten.«
    Der Kämpe des Königs rieb sich über das Gesicht. Seine Augen fühlten sich an, als wären sie voller Sandkörnchen, und unerklärlicherweise verspürte er ein Frösteln. Er war, wie ihm klar wurde, vollkommen erschöpft.
    »Unsere zwanghafte Anhäufung von Reichtum«, fuhr Kuru Qan fort, »unsere ungestüme Entwicklung, als wäre Bewegung ein Ziel, und dieses Ziel an sich schon rechtschaffen. Unser Mangel an Mitgefühl – etwas, das wir als ›realistisch sein‹ bezeichnen. Unsere drastischen Urteile, unsere Selbstgerechtigkeit – das ist alles eine Flucht vor dem Tod, Brys. Alles ein gewaltiges Leugnen, begraben unter Semantik und Euphemismen. Tapferkeit und Opferbereitschaft, Mitleid und Fehlschlag, als wäre das Leben ein Wettbewerb, den man gewinnt oder verliert. Als wäre der Tod Herr der Bedeutung, der Augenblick des endgültigen Urteils, und – wichtiger als alles andere – als wären Urteile etwas, das man fällt, statt dass sie über einen gefällt werden.«
    »Wäre es Euch lieber, wenn wir den Tod verehren würden, Ceda?«
    »Das ist gleichermaßen sinnlos. Man braucht keinen Glauben, um zu sterben, man stirbt sowieso. Ich habe von einem allgemeinen Leugnen gesprochen, und es ist in der Tat und in jeder Hinsicht allgemein. Das Gewebe unserer Welt an sich ist hier in Lether und vielleicht auch noch anderswo um diese … Abwesenheit verdreht worden. Es sollte eine Feste des Todes geben, versteht Ihr? Ist das von Bedeutung? Es ist das Einzige, was von Bedeutung ist. Es muss einst eine gegeben haben. Vielleicht sogar einen Gott, ein grässliches Skelett auf einem Knochenthron mit einer Krone aus um ihn herum tanzenden kaltbeinigen Fliegen. Doch hier sind wir, und wir haben ihm kein Gesicht gegeben, keine Gestalt, keine Position in dem komplizierten Plan unserer Existenz.«
    »Vielleicht, weil er das genaue Gegenteil von Existenz darstellt –«
    »Aber das ist er nicht, Brys, das ist er nicht. Hol uns der Abtrünnige, der Tod ist überall um uns herum. Wir treten über ihn hinweg, wir atmen ihn ein, wir saugen seine Essenz in unsere Lungen, in unser Blut. Wir nähren uns jeden Tag von ihm. Wir gedeihen inmitten von Verfall, Zersetzung und Auflösung.«
    Brys musterte den Ceda. »Es kommt mir gerade der Gedanke«, sagte er langsam, »dass das Leben selbst eine Feier des Leugnens ist. Des Leugnens, von dem Ihr sprecht, Kuru Qan. Unsere Flucht – nun, zu fliehen bedeutet, sich selbst von den Knochen zu befreien, von der Asche, all dem, was weggeworfen wurde.«
    »Fliehen – wohin?«
    »Zugegeben. Nirgendwohin – nur anderswohin. Ich frage mich, ob das, was Ihr gesagt habt, sich in Kreaturen wie Kessel und dieser Diebin namens Shurq Elalle manifestiert –«
    Der Kopf des Ceda ruckte hoch; die Augen hinter den dicken Linsen blickten schlagartig hellwach. »Entschuldigt. Was habt Ihr gesagt?«
    »Nun, ich habe von denjenigen gesprochen, denen tatsächlich der Tod versagt wird, Ceda. Das Kind, Kessel –«
    »Die Wächterin des Azath? Sie ist untot?«
    »Ja. Ich bin mir sicher, das erwähnt –«
    Kuru Qan war schon auf den Beinen. »Seid Ihr Euch ganz sicher? Sie ist eine Untote, Brys Beddict?«
    »Ja, das ist sie. Aber ich verstehe nicht –«
    »Steht auf. Wir gehen. Sofort.«
     
    »Es sind all die toten Leute«, sagte Kessel. »Sie wollen Antworten. Sie werden nicht gehen, solange sie keine Antworten bekommen.«
    Shurq Elalle kickte ein Insekt beiseite, das auf ihren Stiefel gekrabbelt war. »Antworten worauf?«
    »Warum sie gestorben sind.«
    »Es gibt keine Antworten«, erwiderte Shurq. »Leute tun das einfach. Sterben. Sie sterben. Sie sterben immer.«
    »Wir sind nicht gestorben.«
    »Doch, das sind wir.«
    »Nun, wir sind nicht weggegangen.«
    »Es klingt aber so, als wären sie das auch nicht, Kessel.«
    »Das stimmt. Ich frage mich, warum ich daran nicht gedacht habe.«
    »Weil du ungefähr zehn Jahre alt warst, als du gestorben bist.«
    »Also, was mache ich jetzt?«
    Shurq musterte den überwucherten, von Erdhügeln übersäten Hof. »Du hast mich auf eine Idee gebracht, und deswegen bin ich hier. Du hast gesagt, dass die Toten sich versammeln. Dass sie sich um diesen Ort herum versammeln, sich gleich außerhalb der Mauern herumtreiben. Kannst du mit ihnen sprechen?«
    »Warum sollte ich das wollen? Sie sagen nie was Interessantes.«
    »Aber du könntest es, wenn du müsstest.«
    Kessel zuckte die Schultern.

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